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Studienjahr 2024/25 "Osteuropa dekolonial/postkolonial?"

Zu Beginn des akademischen Jahres 2024/25 kamen die Lehrenden des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin zusammen, um das Thema für das Projektseminar festzulegen. Die Wahl fiel auf „Post- und Dekolonialität in Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien”. Zu präsent waren die Bezüge dieser Begriffe zu den Konflikten und Entwicklungen unserer Zeit – allen voran Russlands Krieg gegen die Ukraine, aber auch die Beziehungen der Europäischen Union mit den Staaten des Westbalkans und des Kaukasus sowie die Reaktionen auf die EU-Erweiterung um die zehn mittelosteuropäischen Länder. All dies machte Post- und Dekolonialität zu einem naheliegenden Ausgangspunkt für das Seminar und die begleitende Grundlagenvorlesung.

Im Rahmen des Projektseminars arbeiten Studierende in Gruppen und entwickeln eigene Projekte zu einem vorgegebenen Oberthema. Die Projekte verfolgen dabei stets zwei Ziele: Einerseits geht es um wissenschaftliche Arbeit, also das Gewinnen neuer Einsichten oder die Entwicklung von Erklärungen, andererseits um die Vermittlung dieser Ergebnisse an eine breitere Öffentlichkeit, etwa durch Ausstellungen, Podiumsdiskussionen oder Dokumentarfilme. Vielleicht traf das diesjährige Thema besonders stark die Interessen der Studierenden; jedenfalls fiel auf, mit welcher Kreativität und Energie sie sich der Entwicklung und Umsetzung ihrer Projekte widmeten.

Das Ergebnis ist ein breites Spektrum an Themen: von der Sprachpolitik in Moldau und Gagausien über urbane Transformationsprozesse in Taschkent, Musikfestivals im Kosovo und zeitgenössische Kunst in Georgien und Armenien bis hin zu den Debatten um reproduktive Rechte in Polen und Kroatien. Ein roter Faden, der sich durch viele Beiträge zieht, ist die komplexe Aushandlung von Identität in umkämpften oder Übergangskontexten. Ob Moldaus Balance zwischen Ost und West, die Art und Weise, wie Städte wie Mostar nationale Spaltungen räumlich verkörpern, oder die kulturelle Szene im Kosovo, die Anerkennung einfordert – Identität erscheint zugleich fragil und widerstandsfähig, Kolonialität und Orientalisierung werden sowohl Russland als auch der Europäischen Union vorgeworfen, und die entsprechende „post- und dekoloniale“ Kritik wird sowohl von progressiven als auch von konservativen Akteur*innen angeeignet und eingesetzt.

Damit entziehen sich die von den Studierenden betrachteten Themen und Entwicklungen vereinfachenden postkolonialen Begrifflichkeiten, insofern diese Begriffe klare Trennlinien zwischen Imperien, ihrem Erbe, und dekolonialen Akteuren voraussetzen. Ebenso vereint die Projekte ein starkes Interesse am kulturellen Erbe – sei es in Form von Sprachen, Architektur oder künstlerischer Produktion –, verstanden als Schnittfeld, in dem Macht, Erinnerung und Zugehörigkeit untrennbar ineinandergreifen.

Methodisch zeichnet die Beiträge ein qualitativer, häufig ethnographischer Zugang aus. Studierende nutzten Feldforschung, Interviews, visuelle Analysen und kollaborative Verfahren, um Perspektiven sichtbar zu machen, die in politischen Debatten oder offiziellen Narrativen oft übergangen werden. Sie stellen die Stimmen lokaler Akteur*innen – Bewohner*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen oder Kulturschaffender – in den Mittelpunkt und betten diese in breitere geopolitische und historische Zusammenhänge ein.

Die in dieser Broschüre veröffentlichte Sammlung von Projektbeschreibungen bietet eine Momentaufnahme studentischer Forschung und lädt zugleich dazu ein, die kritische Diskussion über postkoloniale und dekoloniale Perspektiven in und auf Osteuropa fortzuführen. Die Broschüre eröffnet Einblicke in die ambitionierten und gelungenen Projekte der Studierenden. Sie erinnert jedoch auch daran, dass die vielleicht wichtigste Erfahrung aus studentischer Sicht nicht allein in der Entwicklung und Umsetzung von Forschungsthemen lag, sondern im gemeinsamen Arbeiten: im Austausch von Ideen, in der Zusammenarbeit im Team – mit all ihren Herausforderungen, aber auch mit bereichernden, motivierenden Momenten.