Examensarbeit Straetling
Die Arbeit untersuchte Strategien der Kanonisierung und Ikonisierung Puškins in der russischen Gegenwartsliteratur. Ziel war es, unterschiedliche Weisen der Nutzung und Reflexion mnemonischer Strukturen und Konzepte literarischer Inszenierung von Gedächtnis auszudifferenzieren und damit am Vorabend des Dichter-Jubiläums das Phänomen des Puškin-Kultes in seinen aktuellen Ausprägungen zu beschreiben.
Ausgehend von einer Analyse der Funktionen, Mechanismen und Objektivierungsformen des (artifiziellen) kulturellen Gedächtnisses, wurde einführend eine Übersicht über wichtige Tendenzen der Puškin-Rezeption über zwei Jahrhunderte gegeben, um darauf aufbauen im Hauptteil der Arbeit konkrete Textanalysen vornehmen und diese literaturhistorisch einordnen zu können. Als prädestiniert für eine Diskussion der poetischen Auseinandersetzung mit Aspekten der Kanonisierung durch kulturelle Speicherung und Archivierung wurden drei Texte ausgewählt, deren strukturelle und semantische Referenz das Gedächtnis ist: Zapovednik (1983) von Sergej Dovlatov, Fotografija Puškina (1987) von Andrej Bitov und Pamjatnik (1992) von Vladimir Sorokin.
Die Analyse von Dovlatovs Zapovednik orientierte sich an der Spannung von individuellem und kollektiven Gedenken, die eine Konstruktion verbindlichen klassischen Wissens begleitet. Am Text wurde die Konfrontation der offiziellen Memoria-Institution „Puškinskie gory“ mit den Versuchen, in subjektivierenden Schreibstrategien einen Rest an Authentizität und intimer Nähe zum Klassiker zu finden und diese durch eine Form der Selbstinszenierung des Schriftstellers als „puškinesk“ zu stützen, herausgearbeitet. Dabei zeigte sich, daß die Profilierung der eigen Biografie als unverstellte und unverfälschte Technik des Bewahrens in Abgrenzung zu einem Ort ritualisierten Erinnerns, des Museums, das in seinen Exponaten Original und Fälschung ununterscheidbar macht, nicht nur ein ‚positives‘ Gegenbild entwirft. Sie wird selbst in dem Maße problematisch, wie Geschichtsfiktionalisierung auch die individuelle Authentizität affiziert.
Die weitgehenden destabilisierenden Implikationen der Simulakrisierung von Gedächtnismedien führt Bitovs Erzählung Fotografija Puškina anhand der Fotografie vor. Das Problem des Verdoppelungsverhältnisses von Urbild und Abbild, das dem technisch reproduzierbaren Bild inhärent ist, wird auf der Ebene der strukturellen Textorganisation aufgenommen als Problem des Referenzverhältnisses von repräsentiertem Objekt und Repräsentant. Im Konflikt von ikonischen und diegetischen Erinnerungsstrategien erweist sich die Tendenz der fotografischen Lichtschrift, ihren Gegenstand zu usurpieren, während die diegetische Druckschrift dem begehrten Original seinen – jedoch schon ambivalent gewordenen – Status läßt; allerdings nur dadurch, daß sie ihm erlaubt, sich in polyvalenten Zuschreibungen zu entziehen.
Als materialisierte Erinnerungsfigur steht in Sorokins Erzählung Pamjatnik das Denkmal im Zentrum nationaler mnemonischer Praktiken. Das Gedenken des kollektiven Körpers über Entrückung des Klassikers auf den Sockel und Heranrückung als sichtbares, berührbares Zeichen läuft im Text an einer Denkmalfigur ins Leere, deren Formensprache wuchernde Signifikationsprozesse in Gang setzt. Das Phänomen des Puškin-Kultes ist in Sorokins Text nicht Basis für die Suche nach dem abwesenden Dichter-Objekt in der materialisierten Chiffre bzw. für die Suche nach der authentischeren Gedenkstrategie im intertextuellen Bezug auf Puškins „exegi monumentum“. Hier tritt das Denkmal als kontingent-permutative Einschreibe- und Aufzeichnungsfläche auf, das Auslöser und (vorläufiger) Endpunkt eines selbstreflexiven Prozesses der Differenzerzeugung ästhetischer Objekte ist.
Die drei analysierten Texte nehmen polare Positionen innerhalb eines als „postmodern“ charakterisierten Modus‘ der Geschichts- und Kulturaneignung ein. Sie konturieren divergente Puškin-Bilder mit Hilfe von Praktiken, die sich im Spannungsfeld von pessimistischen Korrekturversuchen und konstruktiven Umakzentuierungen, von identitätsstiftenden Re-Funktionalisierungen und kollektiven De-Funktionalisierungen, von ikonodulen Erinnerungskünsten und ikonoklastischen Vergessensmaschinerien verorten lassen.