Mediothek des Osteuropa-Instituts
Regie: Ildikó Enyedi
Genre: Spielfilm
Jahr: 1989
Sprachfassung: Ungarisch mit deutschen Untertiteln
Dauer: 103 Minuten
Hier geht es zum Stream.
Synopsis:
Ein bittersüßes Märchen, das vom Anbruch der Moderne erzählt: In der Nacht des Jahres 1880, in der Thomas Edison die Erfindung der elektrischen Glühbirne feiert, werden in Budapest zwei Zwillingsmädchen einer unverheirateten Frau geboren. Bald verwaist, schlagen sich Lili und Dora mit dem Verkauf von Streichhölzern im Schnee durch. Wie das Mädchen in Hans Christian Andersens Märchen versinken die Schwestern in Träumen eines besseren Lebens, in denen ihnen ein Esel zur Rettung kommt. In Wirklichkeit werden beide von wohlhabenden, zwielichtigen Männern entführt.
Kurz darauf sind sie im Jahr 1899 zu sehen, am Ende eines Jahrhunderts und zu Beginn eines neuen, an Bord des Orient Express. In einer Doppelrolle, gespielt von der polnischen Schauspielerin Dorotha Segda, tritt Dora als femme fatale im Speisewagen auf, während Lili als schüchterne Anarchistin in der dritten Klasse reist. Ihre Geschichten entfalten sich quer durch Mitteleuropa: Dora orchestriert einen waghalsigen Juwelenraub, während Lili am Zünden einer Bombe scheitert. Ohne voneinander zu wissen, gehen sie eine Beziehung zu ein und demselben Mann ein, was zu Verwirrung und Verwechslung führt. Erst am Ende – abermals von einem Esel geführt – finden sie zusammen, treten in eine Spiegelhalle und werden so auf poetische Weise zur Metapher für Identität, Moderne und das brüchige Selbst.
Dabei scheint der Titel Mein 20. Jahrhundert zunächst nicht zum Film zu passen. Anstatt die historischen Ereignisse und politischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts zu reflektieren, widmet sich Ildikó Enyedi den Hoffnungen, Projektionen und Träumen, mit denen am Ende des 19. Jahrhunderts auf das neue, anbrechende Jahrhundert und dessen technologischen Fortschritt geblickt wurde.
Enyedi hält die Bilder dabei in Schwarz-Weiß und lehnt sich mit Zwischentiteln und Irisblenden an den frühen Stummfilm an. Mit ihrer Schneekugel-und-Zuckerbäcker-Ästhetik verleiht sie dem Film eine kindliche Unschuld, die zum bittersüßen Anbruch der Moderne in Kontrast steht. Szenen sind dabei nicht linear, aber mit einem hyperkinetischen Überschwang im Stile Věra Chytilovás montiert, und entziehen sich so eindeutigen ideologischen Zuschreibungen.
Dennoch greift der Film damalige Themen auf: In einer Sequenz besucht Lili eine grotesk frauenfeindliche Vorlesung Otto Weiningers, dem gleichwohl antisemitischen Verfasser von „Geschlecht und Charakter“. In einer anderen befreit sich ein Hund, möglicherweise eins von Pawlows Versuchstieren, von Elektroden und flieht ans Meer – manche Kritiker:innen lesen das als Metapher auf das von Ländern eingeschlossene Ungarn. Auch das Kino selbst wird hier als Idee des anbrechenden Jahrhunderts verhandelt und auf dessen illusorisches wie emanzipatorisches Potential abgetastet.
Mehr zu den Filmen des MonatsFilmspecial Ukraine der Mediothek:
Die Mediothek des Osteuropa Instituts sammelt im Rahmen des Ukrainespecials Dokumentar- und Spielfilme, die nach dem russischen Angriffskrieg von ukrainischen und weiteren mittel- und osteuropäischen FilmemacherInnen, von internationalen Filmfestivals und Filminstitutionen im kostenlosen Onlinestream veröffentlicht wurden.
Die Filmauswahl wird regelmäßig mit neuen Streamingangeboten ergänzt und bietet einen kritischen und vielseitigen filmischen Zugang zu den aktuellen Erreignissen in der Ukraine und in der Region.






