Springe direkt zu Inhalt

Exkursion "Sankt Petersburg – eine Stadt lesen und verstehen"

Petersburger Kanal

Petersburger Kanal
Bildquelle: Lea Aupperle

Panorama

Panorama
Bildquelle: Karoline Gorissen

Blockadeerinnerung

Blockadeerinnerung
Bildquelle: Jennifer Geiser

Exkursionsgruppe

Exkursionsgruppe

Petersburger Nebel

Petersburger Nebel
Bildquelle: Lea Aupperle

Denkmal Schemjakins

Denkmal Schemjakins
Bildquelle: Lea Aupperle

Toast St. Petersburg

Toast St. Petersburg
Bildquelle: Karoline Gorissen

Vom 13.04.–20.04.2018 besuchten Studierende des Osteuropa-Instituts der FU Berlin anlässlich des Revolutionsjubiläums im Kontext eines Seminars St. Petersburg.

 

Sankt Petersburg – eine Stadt lesen und verstehen

Wer sich für Sankt Petersburg als literarischen Schauplatz interessiert, hatte im Wintersemester 2017/18 die Gelegenheit tief in die Materie einzusteigen. Im Seminar „Sankt Petersburg – eine Stadt lesen und verstehen“ von Clemens Günther (Fachbereich Kulturwissenschaften am OEI) gingen die TeilnehmerInnen nach der Lektüre von Schlüsseltexten auch vor Ort auf Spurensuche. Die Exkursion bot ein vielfältiges Programm, die Sankt Petersburg auch als Experimentierfeld für Architektur, Kunst, Film und Musik erfahrbar machte.

Adam und Eva, Peter und Paul

Welcher Ort würde sich besser eignen um unsere Exkursion zu beginnen, als die Peter- und Paulsfestung, der historische Kern der Stadt Petersburg. Um nicht ganz bei Adam und Eva anzufangen und die Studierenden mit Ereignisgeschichte aus der Gründungszeit zu langweilen, hatte sich die erste Referentin ein spezielles Thema rausgesucht: Der Wandel der gesellschaftlichen Erinnerung an die Romanov-Dynastie und die Zarenverehrung im modernen Russland. Mit Liebe zum Detail wurden die Hintergründe von der Rehabilitierung der unter den Sowjets verteufelten Kaiserfamilie über die Ausgrabung und Identifizierung und bis zur Heiligsprechung der erläutert. Der zuweilen skurril erscheinende zeitgenössische Kult um die in der Peter-und-Paul-Festung beigesetzten Zarenfamilie – erwähnt seien hier beispielsweise die vor Ort angebotenen Ikonen der zweifelhaften Märtyrer – war ein anschauliches Beispiel für eine gesellschaftliche Rückbesinnung auf die Zeit des russischen Zarenreiches.

Ein anderes Beispiel für einen Wandel in der Erinnerungskultur ist das Denkmal für Peter den Großen von Michail Schemjakin. Sein Umgang mit dem mythisch überhöhten Stadtgründer war gewagt: Er setzte Peter den Großen einen grotesk kleinen Kopf auf. Empfindlich reagierten konservative Petersburger zuerst auf diese künstlerische Intervention im Stadtraum, sodass das Denkmal nach der Aufstellung 1991 sogar zeitweise geschützt werden musste. Inzwischen ist das Kunstwerk längst als Attraktion aufgenommen in die üblichen Reiseführer. Michail Schemjakin, war einer der ersten Künstler, die nach langer Zeit im Exil wieder in Russland ausstellte und gilt heute als einer der bekanntesten zeitgenössischen Künstler Russlands.

Architekturführung zur Avantgarde in Sankt Petersburg 

Ein roter Faden unserer Exkursion war die Betrachtung und Einordnung der Architektur, der wir auf den verschiedenen Stationen unserer Stadtrundgänge begegneten. Durch die Hinweise unserer Stadtführer stellten sich Gebäude, die auf den ersten Blick unscheinbar wirkten, als beispielhafte Bauten für den avantgardistischen Wagemut der Konstruktivisten, die verschiedenen Phasen des sozialistischen Realismus oder kreative Kompositionen europäischer Baustile des Historismus dar. Bestes Beispiel dafür war der Rundgang im Stadtteil Kirovski mit Dmitrij Kozlov mit Schwerpunkt auf Baudenkmälern des Konstruktivismus der 1920er und 1930er Jahre. An der Stadtarchitektur ließen sich nicht zuletzt die politischen Umwälzungen in der frühen Sowjetunion ablesen. Beispielsweise an den Gebäuden von Noi Trotzki, der sowohl für das elegant-minimalistische, an den Bauhausstil erinnernde Verwaltungsgebäude im Stadteil Kirovski (Bauzeit: 1930-1935) als auch für das pompöse Haus der Sowjets im Stil des sozialistischen Realismus (1936-1941) am Moskauer Platz verantwortlich ist.

Als künstlerische Avantgarde verstanden sich auch die Petersburger Protagonisten der Filmkunst. Petersburg war nicht nur die erste Stadt des russischen Reiches, in der die Brüder Lumière ihre bewegten Bilder präsentierten, es entwickelte sich auch eine lebhafte Filmindustrie im vorrevolutionären Petersburg. In der frühen Sowjetunion tobte sich das experimentierfreudige futuristische Kollektiv FEKS („Fabrik des Exzentrischen Schauspielers“) um Grigori Kozintsev und Leonid Trauberg aus. Die seit 1934 unter dem Namen Lenfilm bekannten Filmstudios begründeten Petersburgs Ruf als Filmstadt. Im Filmmuseum der Lenfilm Studios lässt sich diese Geschichte anhand von historischen Filmrequisiten nachvollziehen. Diese etwas lieblos zusammengestellte Ansammlung verstaubter Artefakte wurde durch den Witz unserer Reiseführerin – als langjährige Regieassistentin in den Lenfilmstudios selbst ein Stück Filmgeschichte – beträchtlich aufgewertet.

Leningrader Untergrund

Nicht im Wortsinne in den Untergrund, aber auf eine spannende Entdeckungsreise durch die Straßen und Hinterhöfe des Bezirks Kolomna führte uns Stanislav Savickij, Buchautor und Kenner der sogenannten inoffiziellen Literatur Sankt Petersburgs. In seinem Buch „Underground – Geschichte und Mythen der inoffiziellen Literatur“ beschreibt Savickij jene Gesellschaft von Autoren, die aufgrund der offiziellen Kulturpolitik von den 1960er bis Anfang der 1980er Jahre nicht verlegt wurden und deren literarisches Schaffen deshalb inoffiziell oder „im Untergrund“ vonstattenging. Autoren, die heute zum Kanon der russischen Literatur gehören wie Dovlatov, Bitov oder Brodsky. Eingehend beschäftigt hatten sich die Studierenden im Seminar mit Andrej Bitov und seinem Buch „Das Puschkinhaus“. Die Führung mit einem Kenner des Leningrader Untergrunds war deshalb eine gute Gelegenheit sich den Inhalt der Sitzungen noch einmal vor Ort zu vergegenwärtigen. Dass der Bezirk Kolomna auch heute noch ein interessanter Ort für Kunst und Kultur ist, wurde uns bei dem Rundgang ebenfalls bewusst. Das bekannte Marinskij Theater ist hier angesiedelt und hat in den letzten Jahren durch einen Neubau – wenn auch von unserem Reiseführer wenig geschätzt - seine Kapazität vergrößert. Nova Golandija (Neuholland) steht wie kein anderes Stadtquartier für die post-sozialistische Transformation des Bezirks. Auf dem von Kanälen umgebenen Gelände wurde der runde Ziegelbau eines ehemaligen Gefängnis aus dem 19. Jahrhundert mit dem Spitznamen „Butylka“ (Flasche) zum modernen Kulturzentrum umgebaut. Mit Investitionen des bekannten Milliardärs Abramowitsch wurde am Rande des Petersburger Stadtzentrums eine schicke Lokalität für Kunst, Designerklamotten und internationale Küche geschaffen. Wer sich den neuesten Bildband zu zeitgenössischer Kunst kaufen will, wird sicher im Buchladen „Garage“ der Kunstmäzenin und Ex-Frau von Abramowitsch, Darija Schukowa fündig.

Museen in der Stadt, eine Stadt als Museum

Wie es sich für eine universitäre Bildungsreise gehört, haben die Studierenden des Osteuropa-Instituts keine Gelegenheit ausgelassen, um die vielfältige Museumslandschaft Sankt Petersburgs kennenzulernen. Dabei erwiesen sich die zuvor besprochenen Kursmaterialien und die vorangegangenen Diskussionen im Seminar als gute Vorbereitung. So konnten die Exkursionsteilnehmer beispielsweise die einzelnen Szenen des zuvor besprochenen Films „Russian Ark“ von Alexander Sokurow beim Besuch der Eremitage noch einmal Revue passieren lassen. Im Museum für politische Geschichte, dessen Zeitspanne mit dem politischen Terror gegen die russische Monarchie beginnt und bis in die späte Sowjetunion reicht ließ sich sehr gut über die museale Präsentation von Revolution, Bürgerkrieg und Sowjetherrschaft diskutieren. Um zu verstehen, welche Funktion die Literaturmuseen in der Stadt Petersburg hatten und haben, war der Besuch des Dostojewski-Museums aufschlussreich. In der ehemaligen Wohnung des Dichters im Kuznechny Pereulok waren persönliche Gegenstände – teilweise fragwürdiger Echtheit und Herkunft – ausgestellt und wie Reliquien arrangiert. Museal, wie unter einer Glasglocke wirken einige Straßenzüge in Sankt Petersburg. Nicht verwunderlich angesichts einer Stadtgesellschaft, die sich gleichzeitig als kulturelle Avantgarde sieht und sich trotzdem mit beharrlichem Konservatismus gegen Eingriffe in das Stadtbild zur Wehr setzt. Erinnert sei hier an die Proteste gegen Gazproms gewaltigen Wolkenkratzer, der ursprünglich nahe der historischen Smolny-Kathedrale geplant war und außerhalb des Stadtzentrums an den Finnischen Meerbusen umziehen musste.

Begegnung, Austausch, Vernetzung

Gelegenheiten Vertreter dieser aktiven Stadtgesellschaft kennenzulernen hatten wir während der Exkursion einige. Studierende der Sankt Petersburger Zweigstelle der Higher School of Economics trafen wir zum Austausch und wurden gleich anschließend von einigen Studierenden zur Vorstellung einer Tanzperformance in das „Haus des Schauspielers“ eingeladen. Und natürlich wurde auch ein Gegenbesuch in Berlin verabredet. Einen spannenden Einblick bot uns auch der Besuch des Freiwilligenkomitees für die Vorbereitung der Fußball-Weltmeisterschaft in Sankt Petersburg. Mit großem Enthusiasmus sorgen diese jugendlichen Helfer dafür, dass sich die internationalen Gäste während der Weltmeisterschaft in Petersburg wohlfühlen. Die Organisatoren antworteten auch auf kritische Nachfragen, beispielsweise zum Problem des Rassismus in der russischen Hooliganszene. Und nicht zuletzt die gemeinsam und privat organisierten Besuche von Theaterbühnen, Ballettvorführungen, Konzerthäusern und Jazzkellern boten die Gelegenheit, kulturinteressierte Petersburger kennenzulernen. Zuletzt sind es schließlich die Bewohner, die eine Stadt ausmachen. Getreu dem Anspruch der Freien Universität, internationale Netzwerkuniversität zu sein, nutzten die Studierenden die Möglichkeit der Exkursion zu Austausch und Vernetzung. Ein gelungener Seminarabschluss und eine Chance, theoretische Debatten aus dem Seminarraum in den Stadtraum zu verlegen, die wir so auch künftigen Studierenden der Osteuropastudien wünschen.
 

Verantwortlich: Arthur Molt, Master Osteuropastudien