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Exkursion in die Tschechische Republik, die Slowakei und nach Polen, 24.-30.07.2023

Innenansicht Grube Dul Michal, Ostrava

Innenansicht Grube Dul Michal, Ostrava

Außenansicht Grube Dul Michal, Ostrava

Außenansicht Grube Dul Michal, Ostrava

Außenansicht Dolní Vítkovice mit Bolt Tower, Ostrava

Außenansicht Dolní Vítkovice mit Bolt Tower, Ostrava

Markthalle in Zilina, Architekten Ferdinand Čapka und Mikuláš Šesták

Markthalle in Zilina, Architekten Ferdinand Čapka und Mikuláš Šesták

Gruppenfoto am Institut für Architekturdokumentation an der Schlesischen Bibliothek

Gruppenfoto am Institut für Architekturdokumentation an der Schlesischen Bibliothek

Modernistisches Wohnhaus in Katowice, Architekt Filip Brenner

Modernistisches Wohnhaus in Katowice, Architekt Filip Brenner

Straßenansicht Nikiszowiec-Siedlung Katowice

Straßenansicht Nikiszowiec-Siedlung Katowice

Milleniumssiedlung Katowice

Milleniumssiedlung Katowice

Vom 24.–30.07.2023 fand im Rahmen des Seminars „Industriekultur in Ostmitteleuropa“ eine Exkursion in die Tschechische Republik, in die Slowakei und nach Polen statt. Im Zentrum standen die drei Industriestädte Ostrava, Žilina und Katowice, die nach dem Ende des Sozialismus eine spannende und oftmals schwierige Entwicklung durchlaufen haben, in deren Zentrum der kulturelle, soziale, ökologische und ökonomische Umgang mit dem industriellen Erbe steht. Nachdem im Laufe des Sommersemesters im Seminar bereits viele Aspekte der lokalen Industriekultur besprochen worden waren, sollte die Exkursion dazu dienen, in einem engen Dialog mit lokalen Akteuren die urbanistischen, erinnerungskulturellen, biographischen und ästhetischen Dimensionen lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Industriekultur zu untersuchen.

Nach der circa neunstündigen Anreise nach Ostrava mit dem Zug bezog die Gruppe am Anreisetag zunächst die Unterkunft, die auf dem die Stadt prägenden Industriegelände Dolní Víktovice lag. Nach einem kurzen Rundgang über das Gelände, auf dem noch die Spuren des großen Musikfestivals „Colors of Ostrava“, das am vorangegangenen Wochenende stattgefunden hatte, zu sehen waren, klang der Abend bei einem gemeinsamen Abendessen aus. Am 25.07. stand mit der Grube Dul Michal die Besichtigung einer ehemaligen Kohlezeche auf dem Programm. Eine deutschsprachige Führung begleitete uns über das Gelände, zeigte die musealisierten Maschinen und sprach über gegenwärtige Nutzungskonzepte und künftige -ideen für das Gelände. Im persönlichen Gespräch offenbarte sich eine große Skepsis gegenüber Plänen, die Hauptmaschinenhalle zu einem Kunstzentrum zu entwickeln, die ob des beklagenswerten Zustands der Anlage gerechtfertigt schien. Nach der gut zweistündigen Führung und einer kurzen Mittagspause schloss sich bei strömendem Regen die Besichtigung des Landek-Parks an, einer ebenfalls ehemaligen Zeche, die heute als Museum, Sport- und Veranstaltungszentrum genutzt wird. Hier absolvierten die Teilnehmenden eine Führung zum Grubenrettungswesen in Ostrava, die an die gefährliche Tätigkeit unter Tage gemahnte, und erhielt die Möglichkeit, unter Tage zu fahren und einen Förderstollen zu durchschreiten. Im anschließenden Gespräch wurden bereits einige erste Beobachtungen geteilt, von denen v.a. die auf die Technik- und Industriegeschichte der Anlagen abhebenden Informationen der Führungen sowie die stadtplanerischen Bemühungen der Integration dieser peripheren Orte in das Stadtgedächtnis Ostravas von Bedeutung schienen.

Am 26.07. stand die Besichtigung des Areals in Dolní Vítkovice auf dem Programm, dem emblematischen Ort lokaler Industriekultur in Ostrava. Das ehemalige Stahlwerk nebst angeschlossener Kohlezeche wird heute als Museum, Konzerthaus und Veranstaltungsgelände genutzt. Im Rahmen einer Führung konnten die verschiedenen Etappen der Stahlförderung kennengelernt und der Bolt Tower bestiegen werden. Das hochmoderne und touristisch intensiv genutzte Gelände zeigte dabei idealtypisch, wie sich die industriekulturelle Musealisierung der Stahl- und Kohleindustrie – letztere wurde bereits 1998 eingestellt – in den vergangenen Jahren professionalisiert hat. Auch hier fehlten jedoch weitgehend sozialgeschichtliche, biographische und ästhetische Zugriffsweisen, wie die Studierenden richtig und kritisch bemerkten. In der Konzentration auf das technische Artefakt und im Vertrauen auf die durch das Areal ausgeübten Überwältigungseffekte lässt sich von einer Ästhetisierung der Industrie sprechen, die deren Schattenseiten weitgehend verschweigt. Nur am Rande spielte die schwierige soziale Lage vor Ort, die durch Abwanderung und Arbeitslosigkeit geprägt ist, eine Rolle. Einen Kontrapunkt hierzu bildeten die vielen Gespräche mit jungen Leuten in der Stadt, die die Studierenden immer wieder suchten und in denen sich eine gewisse Frustration mit der „langweiligen“ Stadt Ostrava beobachten ließ. Am Nachmittag wurde in kleinen Gruppen das Arbeiterviertel Mariánské hory besucht, das zentrale Haus der Kunst, das momentan jedoch renoviert wird, unter die Lupe genommen und der mitunter fragwürdige Umgang mit dem funktionalistischen Architekturerbe in der Innenstadt moniert.

Am 27.07. besuchte die Exkursionsgruppe die slowakische Industriestadt Žilina. Nach der knapp zweistündigen Anreise stand zunächst ein geführter Rundgang durch das funktionalistische Žilina auf dem Programm. Einerseits ist bemerkenswert, dass Žilina dieses Erbe bereits als touristische Attraktion zu erkennen scheint, andererseits zeigte der Rundgang aber auch recht deutlich, dass in den letzten Jahren mitunter rücksichtslos modernisiert wurde und die ursprüngliche Nutzung vieler Gebäude nur noch zu erahnen ist. Besonders deutlich zeigte sich dies im Svojdomov-Wohnviertel aus den 1920er Jahren, in dem momentan jeder nach eigenem Gutdünken sein Areal gestaltet. Nach einer kleinen Stärkung zu Mittag stand am Nachmittag zunächst der Besuch der Synagoge auf dem Programm, die in den 1930er Jahren von Peter Behrens geplant wurde und heute als das architektonisch bedeutsamste Monument der Stadt gilt. Dort traf die Gruppe auf sehr gesprächsbereite Kuratoren des heute als Kunstmuseum genutzten Geländes, die die Gruppe zum Besucht des Kiosk-Tanzfestivals in der Stadt einlud. Diese Einladung nahmen die Studierenden wahr und knüpften bis spät in die Nacht viele spannende Kontakte. Am Nachmittag stand zuvor jedoch noch der Besuch eines modernistischen Stadtquartiers auf dem Programm, dessen Erbauer Ferdinand Čapka sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von den stadtplanerischen Ideen Le Corbusiers inspirieren ließ und dabei eine einzigartige Symbiose aus stalinistischem Neoklassizismus und modernistischer Schlichtheit schufen.

Am 28.08. reiste die Gruppe nach Katowice weiter, wo nach der Ankunft und dem Check-In im Hotel ein Termin beim Institut für Architekturdokumentation an der Schlesischen Bibliothek auf dem Programm stand. Der überaus herzliche Empfang vor Ort durch Iga Herok-Turska und Jacek Kamiński und die engagierte Führung durch das Archiv des Instituts sowie später durch die gesamte Stadt war sicher eines der Highlights der Exkursion. Der zunächst eher knapp terminierte Abstecher in das Institut weitete sich zu einem mehrstündigen und überaus inspirierenden Stadtrundgang aus, bei dem der Stolz auf das architektonische Erbe und dessen ästhetische (Wieder)Aneignung in den letzten Jahren atmosphärisch zu spüren war. Der hochprofessionelle Umgang mit diesem Erbe unterscheidet Katowice deutlich von Žilina und noch deutlicher von Ostrava, wo die Erinnerung an diese wichtige Epoche der Architekturgeschichte bislang eher ein Schattendasein fristet. Zeitgleich lässt sich in Katowice eine spannende Synthese aus industrieller Anlagenästhetik und moderner musealer und künstlerischer Nutzung beobachten, die am deutlichsten im Außengelände des Schlesischen Museums zu Tage tritt. Zum Abschluss des Tages schritt ein Teil der Gruppe noch die Route des Modernismus im Süden des Stadtzentrums ab, das deutlich die Spuren der polnischen Aneignung der zuvor vom Deutschen Reich kontrollierten Stadt zeigt.

Am 29.09. stand mit der Besichtigung von Nikiszowiec erneut ein Arbeiterviertel auf dem Programm, das sich in den letzten Jahren zu einem denkmalgeschützten Touristenmagnet entwickelt hat. Das noch vor dem Ersten Weltkrieg von den Charlottenburger Architekten Emil und Georg Zillmann geplante Areal besticht durch seine Backsteinästhetik, die individuelle Ausgestaltung von Giebeln, Fenstern und Türeingänge und die funktionale Integration in die das Viertel umgebenden Industrieanlagen. Letztere werden heute jedoch stiefmütterlich behandelt, finden sich doch auf den von Bauzäunen provisorisch umgebenen Arealen keine Hinweise auf deren Nutzungen. Die Industrie hinter der Industriekultur wird hier unsichtbar – ganz im Gegensatz zum Szyb Wilson, einem nun als Kunstmuseum genutzten Industriegelände unweit von Nikiszowiec, das die Gruppe am Mittag besuchte. Am Nachmittag schließlich stand mit der Milleniumssiedlung eine sozialistische Großsiedlung auf dem Programm, bei deren Besichtigung schön die Kontraste und Kontinuitäten zu früheren Arbeitersiedlungen sichtbar wurden. Die Exkursion wurde abgerundet durch ein gemeinsames Abendessen in der lebhaften Innenstadt, in der nur noch wenig vom einstigen industriellen Erbe der Stadt zu sehen ist.

Die Exkursion erlaubte durch zahlreiche Beobachtungen und Gespräche vor Ort interessante Rückschlüsse auf den aktuellen Umgang mit dem industriekulturellen Erbe in der historischen Region Schlesien/Mähren. Während die Industrie für Ostrava Identität stiftend ist und in vielen Museen ausführlich erklärt wird, suchen Žilina und Katowice deutlicher nach Wegen, sich von diesem Erbe zu emanzipieren und eine neue Erzählung für die Stadt zu entwickeln. Deutlich wird dies u.a. an der Aufwertung der modernen Architektur, die ein Gegenbild zur Industrie darstellen soll und die Städte in eine internationale Geschichte einschreibt – ohne jedoch die nationalen Impulse dieser Kunstepoche zu verschweigen. Verschwiegen werden jedoch weitgehend die großen sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme, die mit der Transformation und dem Ende der Kohleförderung in Tschechien und Polen verbunden waren. Faszinierend ist die Parallelität der Versuche wechselnder Regime, neue Stadtzentren zu schaffen. Das Viertel Poruba in Ostrava und die Milleniumssiedlung in Katowice stehen paradigmatisch dafür. Diese grünen Quartiere sind heute beliebte Wohngegenden, konnten aber die utopischen Versprechen, die der Sozialismus mit ihnen verband, nie gänzlich erfüllen. Offensiver als noch vor einigen Jahren wird heute der multikulturellen Geschichte dieser Region gedacht, v.a. der deutschen, österreichischen und jüdischen Spuren. Dies zeigt sich nicht nur in mehrsprachigen Ausstellungstafeln und Führungsangeboten, sondern auch in Narrativen, die das geteilte Erbes dieser Städte souverän anerkennen. Hierbei spielt auch die Europäische Union als finanzstarker Akteur eine wichtige Rolle. Sie kann und wird dabei helfen, die Potentiale dieser Regionen in Zukunft einem breite(re)n Publikum zu präsentieren.