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Das weibliche Gesicht des Krieges

14.09.2021

Festival Cottbus - still-2

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Rezension von Margaret Pleskach zu Bohnenstange (Dylda, 2019)

Trotz der über zwei Million Frauen, die im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft haben, wird die weibliche Perspektive im Genre des Kriegsfilms selten beleuchtet. Fast alle sind mit männlichen Hauptrollen besetzt und legen den Fokus auf die Kriegserfahrungen von Männern. Das Schicksal der Soldatinnen gerät ohne Auseinandersetzung in Vergessenheit. Umso bedeutender sind Filme wie Kantemir Balagovs Bohnenstange (russ. Dylda, 2019), welcher den weiblichen Soldatinnen in ihrer Alltagssituation nach Kriegsende eine Stimme gibt. Der Film zeigt, welche Herausforderungen die Bewältigung des Kriegstraumas und die Schwierigkeiten, darüber zu sprechen mit sich bringt.

Der Film spielt in Leningrad im Jahr 1945. Nach der dreijährigen Blockade der Deutschen Wehrmacht ist die zertrümmerte Stadt immer noch geplagt von Hunger und Not. Genauso tragen die Bürger der Stadt tiefe Narben des Krieges mit sich. Bohnenstange, Kantemir Balagovs zweiter Spielfilm aus dem Jahr 2019, erzählt von zwei ehemaligen russischen Soldatinnen der Roten Armee, die nach dem Krieg versuchen, zur Normalität zurückzukehren.

Es eignet sich kein Ort besser dafür, die Folgen des Krieges zu zeigen, als ein Krankenhaus. Die Protagonistin Ija arbeitet dort als Krankenschwester, pflegt die verwundeten Soldaten und passt auf den Sohn ihrer Freundin Maša, den kleinen Paša, auf, während diese noch an der Front ist. Doch der kleine Junge erstickt bei einem tragischen Unfall unter Ijas Körper, als sie in eine durch den Krieg entwickelte psychotraumatische Schockstarre verfällt. Als Maša von der Front zurückkehrt, sind die Frauen mit der Tragödie von Pašas Tod und Ijas Schuld konfrontiert. Als Ausgleich für Ijas Schuld fordert Maša ein zweites Kind.

Der Film ist als Charakterstudie der zwei Frauenfiguren angelegt, die vor allem die Emotionen und das Schweigen zwischen ihnen in der Nachkriegszeit in den Vordergrund stellt. Die Dialoge werden reduziert, der Fokus richtet sich stets auf die Körper und Gesichter der Figuren. So sprechen die zwei Protagonistinnen kaum über Pašas Tod, stattdessen trifft Maša sofort die Entscheidung, ein neues Kind zu bekommen.

Die beiden Frauen stehen trotz aller tragischen Geschehnisse in einem engen Verhältnis zueinander, sind aber so konträr wie Tag und Nacht. Der Kontrast wird bereits über das Aussehen der Frauen deutlich: Ija, die aufgrund ihres hohen und schmalen Körperbaus auch Bohnenstange genannt wird, sehr blasse Haut und fast weißes Haar hat, ist sehr zurückhaltend und still. Maša ist dagegen mit ihren dunklen Haaren und ihrer prompten und stürmischen Art das komplette Gegenteil. Und doch scheinen die Frauen einander zu brauchen und versuchen trotz des gemeinsamen Verlusts wieder zueinander zu finden.

Das Drama hebt sich durch einen unerwarteten Perspektivenwechsel von anderen bekannten Kriegsfilmen ab: “Das weibliche Gesicht des Krieges“, wie es Svetlana Aleksievič mit dem Titel ihres bekannten Buches Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (U vojny ne ženskoe lico, 1985) programmatisch formuliert hat, und die intime Auseinandersetzung mit den psychischen und physischen Kriegsfolgen. Es ist ein Nachkriegsfilm ohne Kriegsszenen. Er stellt die bedeutende Frage, wie die Menschen nach dem Krieg mit dem prägenden Trauma miteinander umgehen. Und wie lebt man weiter, wie überlebt man in einer durch den Krieg zutiefst versehrten Gesellschaft.

Die Darstellung des Kriegstraumas und des Versuches, wieder in den Alltag zurückzukehren, findet dabei aber nicht über tiefgehende, ausformulierte Gespräche statt, sondern primär auf einer körperlichen Ebene. Der Krieg hat sich in den Körpern der Figuren verewigt: Ijas Unfähigkeit, ihren Körper während ihrer Schockstarre zu kontrollieren, Mašas Unfruchtbarkeit, der querschnittsgelähmte Soldat Stepan und seine verwundeten Kameraden. Die individuellen Traumata der Soldaten werden besonders deutlich, als sie mit dem kleinen Paša im Krankenhaus Scharade spielen. Die nahen Kameraaufnahmen der blassen Gesichter der Soldaten auf engem Raum und die bittere Stille, als der Junge die Geräusche eines Hundes nicht nachahmen kann, da diese während des Kriegs alle gegessen wurden, spiegeln das Elend und die vergebliche Rückkehr zur Normalität auf eine äußerst intime Art und Weise wider. Die Kriegserfahrungen und die verstörte Nachkriegsgesellschaft werden nie direkt angesprochen und lediglich durch die intimen Bilder und das distanzierte Schweigen deutlich.

Mašas Wunsch nach einem Kind scheint nicht von dem Bedürfnis nach dem Mutter-Sein auszugehen; das Kind soll lediglich als Mittel dienen, ihren verletzten Körper zu heilen. Ihr Körper ist nicht mehr in der Lage, ein Kind auszutragen, weswegen sie sich kaputt und leer fühlt. Ein Kind soll sie wieder ‚ganz‘ machen. Getrieben von ihrem Trauma fordert sie Ija auf, ihre Schuld zu begleichen. Und trotz Ijas gescheitertem Versuch, schwanger zu werden, und Mašas komplizierter Beziehung mit dem jungen Saša bleiben sie in einer Art Zwangsgemeinschaft zusammen. Dabei steht die Frage, ob sie einander überhaupt guttun, nie im Raum. Doch die Unlösbarkeit des Konflikts bleibt durch das Schweigen und Verdrängen des Traumas bestehen.

Die Handlung wird von den offenen und schutzlosen Emotionen der Figuren vorangetrieben, vor allem durch Mašas verzweifeltem Wunsch nach einem Kind und Ijas Eifersucht auf Mašas romantische Beziehung mit Saša. Ijas Eifersucht wird besonders deutlich, nachdem sie Maša küsst. Dabei spielt sich das Gefühlschaos aus Eifersucht und dem Streben nach einem normalen Leben auf engstem Raum ab, in Ijas kleinem Zimmer in der Kommunalka. Es wirkt wie ein Kammerspiel, das allerdings weniger Wert auf den Dialog legt, sondern sich vielmehr auf die Körper und einzelne Geräusche der Figuren fokussiert. Die Außenwelt jenseits von Ijas Kammer wird zum Übergangsraum, in dem sich die Protagonist_innen nur kurz befinden. Besonders deutlich wird dies durch die durchgehende Verwendung der Farben Rot und Grün, welche in den Innenräumen stets wiederkehren. Diese Farben sind immer präsent, besonders auffallend sind sie in den entscheidenden Szenen: der rote Teppich während Pašas Tod, Mašas roter Koffer bei ihrer Rückkehr, die grüne Farbe in den Gesichtern der zwei Frauen, als sie sich küssen und das grüne Kleid, in welchem Maša sich nicht aufhören kann zu drehen. In diesen Szenen sind die Farben intensiv und kräftig, während in anderen, vor allem den Außenszenen, alles blass und entsättigt wirkt. Die Farben scheinen eine Symbolik des Kontrasts darzustellen, Rot steht für das Trauma und Grün für die Hoffnung, dass das Leben nach dem Krieg überhaupt weitergeht. Dennoch liegt die Aussagekraft nicht in der Symbolwirkung, sondern der Intensität der Farben und wie diese den jeweiligen Szenen Bedeutung und Stärke verleihen.

Dies führt zu einem einzigartigen und eindrucksvollen Filmerlebnis. Die drastischen Szenen und nahen Kameraaufnahmen der Figuren kreieren eine intime Atmosphäre, die sofort mitreißt und durch die ungefilterten Emotionen erschüttert, aber auch zum Weiterschauen bewegt. Die Darstellung von Intimität, aber auch gleichzeitiger Distanz durch das Schweigen spiegelt die Schwierigkeit, über Krieg und Trauma in der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft zu sprechen, wider. Es ist eine ästhetische und mitreißende Erzählung, bei der das gängige männliche Narrativ im Kriegsfilm durchbrochen, die traumatischen Folgen des Krieges beleuchtet und der weiblichen Perspektive eine Stimme gegeben wird. Mit seinem Film ist dem russischen Regisseur Kantemir Balagov eine bedeutsame und künstlerische Untersuchung der Nachkriegszeit gelungen, sein Film bringt das Schicksal der Soldatinnen zurück in den erinnerungskulturellen Diskurs.