Psychologische Ästhetik an der Jahrhundertwende (1860–1930): Zwischen Psychologismus und Formalismus
Die Konferenz zielt darauf, die psychologischen Grundlagen formalistischer Modelle zu untersuchen und den Beitrag der mentalistischen Psychologie zur Ästhetik dieses Typs aufzuzeigen. Dabei werden die Beziehungen zwischen dem formalistischen Ansatz und den Forschungsprogrammen der zeitgenössischen Psychologie, der zeitgenössischen Ästhetik sowie der aktuellen kognitiven Ästhetik untersucht. Die Konferenz setzt drei thematische Schwerpunkte:
1. Psychologie, psychologische Ästhetik, Formalismus
2. Formalismus in den russischen und deutschsprachigen Traditionen
3. Vygotskij zwischen Formalismus und Gestaltpsychologie
Psychologie, psychologische Ästhetik, Formalismus
Die Beziehungen der psychologischen Ästhetik zum deutschsprachigen und russischen Formalismus sind bislang nur ansatzweise analysiert worden.
Obwohl die eigentliche psychologische Strömung in der deutschsprachigen Ästhetik (G. Fechner, K. Lange, K. Groos, W. Wundt, Th. Lipps, R. Müller-Freienfels, J. Volkelt, M. Dessoir, E. Utitz; Grazer Schule der Ästhetik: A. Meinong, S. Witasek, A. Höfler, u.a.) sich größtenteils wie eine empirische Psychologie definiert, verlagert sie das ästhetische Objekt in die mentalen Zustände des fühlenden Subjekts. Mit diesen Grundzügen einer introspektiven Wissenschaft der subjektiven ästhetischen Gefühle entsteht eine Art Rezeptionsästhetik.
Psychologische Bewusstseinsmodelle verleihen der heterogenen ästhetischen Theorie in Russland und der frühen Sowjetunion eine gewisse Einheit. Die symbolistische Ästhetik (A. Belyj und andere Theoretiker des Symbolismus), die psychologische Ästhetik (A. Potebnja und die Charkov-Schule), die formalistische Ästhetik, die phänomenologische Ästhetik (G. Špet), die „soziologische“ Ästhetik (P. Medvedev, V. Vološinov) und die Ästhetik L. Vygotskijs stimmen zum Teil in der psychologischen Perspektive überein. Der russische Formalismus seinerseits konzentriert sich auf die formellen spezifischen Besonderheiten des externen ästhetischen Objekts, sein theoretisches Modell fällt dennoch im Wesentlichen in den Bereich der Rezeptionsästhetik.
Formalismus in den russischen und deutschsprachigen Traditionen
Die Konferenz befasst sich mit der Analyse der konzeptuellen und psychologischen Grundlagen des russischen und des deutschsprachigen Formalismus. Zum Kern des formalistischen Kreises in Russland gehören: R. Jakobson, B. Ėjchenbaum, V. Šklovskij, L. Jakubinskij, B. Tomaševskij, J. Tynjanov und V. Žirmunskij. Zur formalistisch orientierten Strömung, die sich in den deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Österreich) am Ende des 19. Jahrhunderts für verschiedene Disziplinen (Ästhetik, Kunstgeschichte, Poetik, Sprachwissenschaft) gebildet hat, zählen: W. Dibelius, B. Seuffert, O. Walzel, A. Riegl und die Wiener Schule der Ästhetik. Andere Theoretiker der formalen Methode sind A. von Hildebrand, K. Fiedler, H. Wölfflin und W. Worringer.
Vygotskij zwischen Formalismus und Gestaltpsychologie
Vygotskij gelangt zu einer ähnlichen Überwindung der Statik früher formalistischer Ansätze wie einige andere Formalisten (etwa Tynjanov), jedoch zum Teil aus anderen Quellen schöpfend, z.B. den ganzheitlichen Ansätzen der Gestaltpsychologie. Somit werden Grundzüge einer Wirkungsästhetik modelliert, die den integralen Zusammenhang von Form und Emotion zu erfassen vermag. In ein entmoralisiertes Modell von Katharsis überführt, kann die Frage nach der Wirkung von Kunst jenseits von Individualpsychologie gestellt werden. Diese Wirkung ist prozessual und unterscheidet sich als „ästhetische Reaktion“ grundsätzlich von Reflexen. Vygotskij versteht ästhetische Emotion als eine „geistige“ und richtet sich mit der Betonung von Phantasietätigkeit gegen das Paradigma von „Kunst als Erkenntnis“. Damit wird eine Ökonomie der Reaktion sichtbar, die in ihrer Zeitstruktur und Intensität eher „verschwenderisch“ ist.
Anhand der sogenannten „psychologischen Ästhetik“ soll in dieser internationalen Konferenz untersucht werden, inwiefern der Einfluss der „kognitivistischen Revolution“ auf die Geisteswissenschaften nicht erst in den 1950er Jahren seinen Anfang nahm, wie eine gewisse Tradition der geisteswissenschaftlichen Historiographie behauptet. Die späte Datierung resultiert aus der Vergessenheit, in welche die Strömung der psychologischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts geraten ist. Diese psychologische Tradition enthält bereits Elemente, die als kognitivistisch oder präkognitivistisch bezeichnet werden können. Dem Forschungsprogramm der Psychologie des 19. Jahrhunderts folgend, hat die ausgearbeitete Ästhetik, die selbst ein Produkt der Psychologisierung der Geisteswissenschaften ist, wesentlich zur Schaffung einer neuen konzeptuellen Orientierung beigetragen. Eine Analyse des Erbes der psychologischen Ästhetik gibt Anlass dazu, die Geschichte des Kognitivismus erneut zu überdenken.
Das Programm:
Freitag, 10. Juni (Seminarzentrum, L 113)
09.30 Registrierung 09:45 Einführung, Grußwort von Jutta Müller-Tamm (Berlin) 10:00 Galin Tihanov (London): Quantitative Methods in (Para-)Formalism 10:30 Georg Witte (Berlin): „Drumming preparition“: Transformative concepts of rhythm11:00 Pause
11:15 David Romand (Paris): “Formgefühl”: Genealogical and typological analysis of a concept between psychology, aesthetics, and epistemology (1850–1910) 11:45 Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hagen/Münster): Kunst als ‚objektive Tatsache‘ und ‚sinnvolle Form‘. Zur Psychologismus- und Formalismuskritik in der Allgemeinen Kunstwissenschaft 12:15 Patrick Flack (Prag): Emil Utitz in context12:45 Mittagspause
14:00 Alexander Dmitriev (Moskau): Potebnja and the school of Kharkov 14:30 Galina Babak (Prag): "Too early forerunner": Ivan Franko on the outskirts of Formalism 15:00 Vladimir Feshchenko (Moskau): Form and Content as War and Peace: Russian aesthetics of language after Potebnja15:30 Pause
15:45 Serge Tchougounnikov (Dijon): Einfühlungsästhetik und Formalismus 16:15 Nikolaj Plotnikov (Bochum): Alternativen zur psychologischen Ästhetik in der Kunsttheorie der GAChN 16:45 Table ronde (Moderation: Margarethe Vöhringer, Berlin)Samstag, 11. Juni (Seminarzentrum, L 116)
10:00 Matthias Aumüller (Wuppertal): Sprache, Erkenntnis, Ästhetik. Der Literaturbegriff des späten 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Psychologismus und Formalismus 10:30 Erik Martin (Berlin): Pathos, shock, trauma: Some avant-garde (meta)aesthetic concepts and their physiological sources11:00 Pause
11:15 Irina Sirotkina (Moskau): Formalism and the Performative: Movement, Skill and Kinaesthesia in the Construction of Twentieth-century Aesthetics 11:45 Willi Reinecke (Berlin): The Economics of Reaction: Vygotsky’s ‚Breathing‘ as organic Formalism 12:15 Hannah Proctor (London): Synaesthetic Aesthetics and the Art of Psychology: Vygotsky, Luria, Eisenstein12:45 Ende der Konferenz: Offene Diskussion
Konzept und Organisation: Willi Reinecke und Serge Tchougounnikov