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Oktober 2025

Az én XX. századom / Mein 20. Jahrhundert (1989) von Ildikó Enyedi

Filmstill "Mein 20. Jahrhundert"

Filmstill "Mein 20. Jahrhundert"

Regie: Ildikó Enyedi

Genre: Spielfilm
Jahr: 1989
Sprachfassung: Ungarisch mit deutschen Untertiteln
Dauer: 103 Minuten

Hier geht es zum Stream.

Synopsis

Ein bittersüßes Märchen, das vom Anbruch der Moderne erzählt: In der Nacht des Jahres 1880, in der Thomas Edison die Erfindung der elektrischen Glühbirne feiert, werden in Budapest zwei Zwillingsmädchen einer unverheirateten Frau geboren. Bald verwaist, schlagen sich Lili und Dora mit dem Verkauf von Streichhölzern im Schnee durch. Wie das Mädchen in Hans Christian Andersens Märchen versinken die Schwestern in Träumen eines besseren Lebens, in denen ihnen ein Esel zur Rettung kommt. In Wirklichkeit werden beide von wohlhabenden, zwielichtigen Männern entführt.

Kurz darauf sind sie im Jahr 1899 zu sehen, am Ende eines Jahrhunderts und zu Beginn eines neuen, an Bord des Orient Express. In einer Doppelrolle, gespielt von der polnischen Schauspielerin Dorotha Segda, tritt Dora als femme fatale im Speisewagen auf, während Lili als schüchterne Anarchistin in der dritten Klasse reist. Ihre Geschichten entfalten sich quer durch Mitteleuropa: Dora orchestriert einen waghalsigen Juwelenraub, während Lili am Zünden einer Bombe scheitert. Ohne voneinander zu wissen, gehen sie eine Beziehung zu ein und demselben Mann ein, was zu Verwirrung und Verwechslung führt. Erst am Ende – abermals von einem Esel geführt – finden sie zusammen, treten in eine Spiegelhalle und werden so auf poetische Weise zur Metapher für Identität, Moderne und das brüchige Selbst.

Dabei scheint der Titel Mein 20. Jahrhundert zunächst nicht zum Film zu passen. Anstatt die historischen Ereignisse und politischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts zu reflektieren, widmet sich Ildikó Enyedi den Hoffnungen, Projektionen und Träumen, mit denen am Ende des 19. Jahrhunderts auf das neue, anbrechende Jahrhundert und dessen technologischen Fortschritt geblickt wurde.

Enyedi hält die Bilder dabei in Schwarz-Weiß und lehnt sich mit Zwischentiteln und Irisblenden an den frühen Stummfilm an. Mit ihrer Schneekugel-und-Zuckerbäcker-Ästhetik verleiht sie dem Film eine kindliche Unschuld, die zum bittersüßen Anbruch der Moderne in Kontrast steht. Szenen sind dabei nicht linear, aber mit einem hyperkinetischen Überschwang im Stile Věra Chytilovás montiert, und entziehen sich so eindeutigen ideologischen Zuschreibungen.

Dennoch greift der Film damalige Themen auf: In einer Sequenz besucht Lili eine grotesk frauenfeindliche Vorlesung Otto Weiningers, dem gleichwohl antisemitischen Verfasser von „Geschlecht und Charakter“. In einer anderen befreit sich ein Hund, möglicherweise eins von Pawlows Versuchstieren, von Elektroden und flieht ans Meer – manche Kritiker:innen lesen das als Metapher auf das von Ländern eingeschlossene Ungarn. Auch das Kino selbst wird hier als Idee des anbrechenden Jahrhunderts verhandelt und auf dessen illusorisches wie emanzipatorisches Potential abgetastet.

Zur Regisseurin

Ildikó Enyedi wurde 1955 in Budapest geboren. Sie studierte zunächst Betriebswirtschaft, dann Filmregie an der Universität von Budapest und in Montpellier in Frankreich. In den Jahren 1977 bis 1985 gehörte sie der Künstlergruppe „Indigo“ an. Anschließend arbeitete sie im Béla-Balázs-Studio sowie im „Studio Junger Künstler“. 1990 gründete sie ihre eigene Produktionsfirma, das „Three Rabbits Studio“, für das sie seitdem als Drehbuchautorin und Regisseurin tätig ist. Zudem unterrichtet sie Filmregie an der Universität von Budapest. Für ihr Langmetrage-Debüt Mein 20. Jahrhundert erhielt sie 1989 die Goldene Kamera in Cannes.

Weiterführende Informationen

- Die Plattform Artechock hat Ildikó Enyedi interviewt. Auch Deutschlandfunk Kultur erläutert einige Hintergründe. 

- Filmwissenschaftler Szolt Gyenge bietet einen Überblick über Enyedis Werk. 

- Im Film-History-Journal schreibt Sonja Simonyi über das Balázs Béla Studio.

Mehr Informationen zu den Filmen der letzten Monate finden Sie auf der Website der OEI Mediothek.