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Boris Kanzleiter, Krunoslav Stojaković (Hrsg): "1968" in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Gespräche und Dokumente. Bonn: Dietz Verlag 2008, 352 Seiten, ISBN 978-3-8012-4179-7, 38 Euro.

 

Die "68er"-Bewegung war ein internationales Phänomen, bei dem sich Heranwachsende massiv gegen gesellschaftliche Diskrepanzen, autoritäre Strukturen und politische Verhältnisse auflehnten, die in ihren Augen eklatante Fehlentwicklungen waren. Dabei nutzten sie in den verschiedenen Ländern ähnliche Ausdrucksformen für ihre Proteste. Als Katalysator kann besonders der amerikanische Militäreinsatz in Vietnam gelten. Auch in Jugoslawien, wo die junge Generation diese Impulse aus dem Ausland aufnahm, gab es ein kaum zu übersehendes "1968": "Es entstand eine Atmosphäre, in der es ganz normal erschien, dass so ein Protest auch hier beginnen müsse", erinnert sich der Journalist und Alt-"68er" Dragomir Olujić an die Zeit nach den sensationellen Demonstrationen in den USA und der BRD (48). Die Bewegung gewann an Dynamik, als im Dezember 1966 junge Jugoslawen in Belgrad gegen den Vietnam-Krieg demonstrierten und dabei in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht gerieten. Seinen Höhepunkt erreichte der Studentenprotest mit dem Streik an der Belgrader Universität im Juni 1968, der als "erste offene Revolte in Jugoslawien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs" gelten kann (36). Wie der vorliegende Band zeigt, spiegelte sich in der Studentenbewegung Jugoslawiens auch die Sonderrolle ihres Landes zwischen Ost und West wider, da sich hier einerseits Einflüsse aus dem Westen bemerkbar machten, andererseits Solidarität mit den als "Genossen" bezeichneten Studenten in Polen geübt wurde (30), wovon in dem Band einige zeitgenössische Dokumente berichten (224-230).

Obwohl die jugoslawische Studentenbewegung so in den internationalen Protestkontext eingebunden war (vgl. 117), fand sie in keiner der gängigen Studien zu "1968" eine tiefgründige Behandlung. Die Werke, die bisher zu den "68ern" in Jugoslawien erschienen, lassen sich an einer Hand abzählen. Umso begrüßenswerter ist nun dieses Buch, das Boris Kanzleiter und Krunoslav Stojaković gemeinsam herausgegeben haben. Beide promovieren zum Themenkomplex und haben uns quasi als Vorprodukt eine Quellensammlung in Form von Stellungnahmen beteiligter Zeitzeugen und zahlreicher Schlüsseldokumente verschiedener Provenienz bereit gestellt. Dass die Studentenbewegung eine Republiken übergreifende Erscheinung war, lässt sich auch an der Herkunft der insgesamt 17 Gesprächspartner aus fast allen jugoslawischen Föderationssubjekten, mit Ausnahme Mazedoniens, erkennen.

Ganz so "irreversibel", wie in der historischen Heranführung suggeriert (16), war der 1948 vollzogene Bruch zwischen Moskau und Belgrad nicht, denn Chruščev bemühte sich in den späten 50er Jahren bekanntermaßen erfolgreich um eine Wiederannäherung. Ansonsten vermittelt der Einleitungsteil profunde Kenntnisse über die historischen, politischen und gesellschaftlichen Prämissen sowie über die Auswirkungen der jugoslawischen Studentenbewegung. Die beiden Verfasser gehen dabei einen nahe liegenden Weg, wenn sie die intellektuellen Voraussetzungen aus dem Land selbst erklären: Von Milovan Đilas, der als Dissident aus den Reihen der Kommunisten die Entfremdung der Machtstrukturen mit seiner Analyse der "neuen Klasse" schon in den 50er Jahren kritisiert hatte, über die weniger bekannten regimekritischen Zeitschriften aus den Hauptstädten der nördlichen Föderationsrepubliken und den philosophischen Denkströmungen, die sich Anfang der sechziger Jahre abseits vom Korsett des Sowjetdogmatismus in Jugoslawien etablieren konnten, führt er zur Praxis-Gruppe, die seit 1963 in einer Sommerakademie auf der Adriainsel Korčula auch mit den internationalen Größen zeitgenössischer Philosophie zusammentraf. Hier fanden sich also die meist autochthonen Vordenker der jugoslawischen Studentenbewegung mit ihrem "Anspruch einer undogmatischen Marxismusinterpretation", die sich auf die politische Realität des Selbstverwaltungssozialismus bezog (17-21). Auch in diesem Abschnitt wird der jugoslawische Sonderfall deutlich, denn die politischen Forderungen von 1968 verhielten sich weitgehend konform zum Regierungsprogramm: Nicht die Änderung der normativen Gesellschaftsordnung, sondern deren konsequente Verwirklichung, also die Beseitigung des "Papiersozialismus" (231), waren das erklärte Anliegen der streikenden Studenten. Inwiefern gesellschaftskritische Schriften, die erst ab 1972 in serbokroatischer Sprache erschienen, einen maßgeblichen Einfluss die Studentenrevolte haben konnten, bleibt allerdings fraglich (21-22).

Dem Herausgeberduo zufolge bestand die Formel zum Ausbruch der Proteste aus der Unzufriedenheit mit den schwierigen Lebensbedingungen im überforderten Hochschulbetrieb, der Artikulierung dieser Missstände (besonders in den Zeitschriften Student und Tribuna) sowie einer sich häufenden Parteirhetorik über "Demokratisierung", dem anschließenden Reorganisationsprozess des zuvor zur Kaderschmiede erstarrten kommunistischen Studentenbundes und nicht zuletzt den Rebellionsvorbildern aus dem Ausland. Auch die ansteigende Jugendarbeitslosigkeit fand am Vorabend des Universitätsstreiks vermehrt eine Thematisierung in der Studentenpresse (28-29). Angesichts der deutlich gestiegenen Arbeitslosenquote, die laut einer im April 1968 veröffentlichten Studie offiziell 7,2 Prozent betrug, wobei die versteckte Arbeitslosigkeit die Zahl der knapp 270,000 registrierten Arbeitslosen um ein Vielfaches übertraf,[1] vermitteln die hier präsentierten Interviews vereinzelt den Eindruck einer materiellen Legitimationskrise des als besonders fortschrittlich gepriesenen Selbstverwaltungssozialismus (68-74). Die Bilanz der organisatorischen Struktur der jugoslawischen Studentenbewegung hingegen ist ernüchternd (30): "Die Studentenaktivisten vermochten es nie, längerfristige unabhängige formale Organisationsstrukturen außerhalb der offiziellen Massenorganisationen und des BdKJ [der "Partei"] aufzubauen." Ihnen blieben letztlich nur "informelle Gruppen und Netzwerke" übrig.

Im Fall eines multinational konstituierten Staates überrascht es kaum, dass der nationalistische Aspekt für die studentische Protestbewegung an Bedeutung gewann. Der Kroatische Frühling, den der ex-Praxis-Mitarbeiter und Zagreber Politologieprofessor Žarko Puhovski als "per definitionem nationalistisch" einschätzt (87), überlagerte die sozialen und demokratischen Forderungen der Studentenbewegung mit nationalen Zielen (72). Nach der Unterdrückung dieser nationalen Bestrebungen, angeführt von der Entmachtung der kroatischen Parteispitze durch Tito Ende 1971, folgte 1974 die "Dezentralisierung ohne Demokratisierung" (Laslo Sekelj). Letzte Revitalisierungsversuche der linkspolitischen Studentenopposition scheiterten in diesem Jahr angesichts der starken staatlichen Repression (34-35). Vielleicht findet sich in dieser Gleichzeitigkeit ein Schlüssel zu dem Statement, das die Belgrader Soziologieprofessorin und ehemalige Praxis-Mitarbeiterin Zagorka Golubović im Gespräch mit Boris Kanzleiter abgab: "Hätte diese Bewegung überlebt, denke ich, dass Jugoslawien vor der Zerstörung hätte gerettet werden können." (123)

Wie die Interviewten verständlich machen, verlief die Repression graduell. Der Praxis-Abonnent Tito (137) zeigte im Juni 1968 zunächst ein gewisses Verständnis für das Aufbegehren der Studenten: "Das ist eine Reaktion auf unsere Schwächen, die sich angehäuft haben und die wir heute beseitigen müssen", folgerte der Staats- und Parteichef (255). Doch erwies sich dieses Einlenken schnell als taktisches Manöver. Auf lange Sicht diente es dazu, die radikaleren Linken mit ihren weitergehenden Forderungen zu isolieren. Der Aufruhr war gerade in dem Segment der Gesellschaft aufgetreten, das für die herrschende Elite als Hoffnungsträger einer leuchtenden sozialistischen Zukunft galt. Es ist aus der inneren Logik des Machterhalts also nachvollziehbar, warum die Staatsorgane gegen unbeirrbare Aktivisten drastische Maßnahmen ergriffen. Außer den zahlreichen Verhaftungen (dazu besonders ausführlich der Rechtsanwalt Srdjan Popović) und der Ausschaltung der Organisationsstrukturen studentischer Opposition, wie der Unterbindung des unabhängigen Pressebetriebs (62-66), verübte die Staatsgewalt auch gezielt tätliche Angriffe auf bestimmte Personen. Svetlana Slapšak beispielsweise hat – gewissermaßen als Andenken an Titos Jugoslawien – buchstäblich eine Narbe davongetragen. Die Feministin und Professorin für Altertumskunde hat in ihrem Wortbeitrag den Mythos Jugoslawien in der zweiten Hälfte der 70er als "fröhliche Diktatur" (nach außen liberal, nach innen repressiv) demaskiert. Sie schlägt allerdings auch kritische Töne über den Universitätsstreik als Profilierungsbühne einer neuen Elite an (93-100).

Ohnehin scheint die "68er"-Bewegung in Jugoslawien in ihrer personellen Struktur im Prinzip eine ähnliche Entwicklung durchgemacht zu haben wie dies etwa bei der bundesdeutschen der Fall war – nur eben in einem geringeren und unter den polizeistaatlichen Bedingungen weniger extremen Ausmaß: Es gab die Mitläufer, die nachher quasi wieder nach Hause gingen, dann die gemäßigten Aktivisten und sogar Planungen subversiver Aktionen. Als herausragendes Beispiel für das neue Establishment (Stichwort: "Marsch durch die Institutionen") kann sicherlich der spätere serbische Premier Zoran Đinđić gelten. Sehr instruktiv ist übrigens der essenzielle Beitrag von Nebojša Popov, der nicht nur als Akteur, sondern auch aus analytischer Warte mit den "68ern" in Verbindung stand. Abgerundet wird der Band durch eine Reihe von Fotografien, die der Studentenbewegung Plastizität verleihen. Der Dokumententeil zeichnet sich durch ein breites inhaltliches Spektrum aus, nicht zuletzt auch weil hier, ebenso wie in der Einleitung und den Interviews, die "68er" Künstlerszene behandelt wird. Leider müssen die Leser auf ein gerade für Quellensammlungen so nützliches Register verzichten, aber dafür gibt es wenigstens ein – wenn auch sehr überschaubares – nach Aspekten gegliedertes Literaturverzeichnis. Positiv anzumerken ist außerdem die Edition von Material aus dem Jugoslawischen Staatsarchiv. Die Herausgeber haben der Wissenschaftswelt mit diesem Band einen reichhaltigen Fundus an Schlüsseldokumenten zur Bearbeitung eines weitgehend noch brach liegenden Forschungsfeldes zur Verfügung gestellt. Wir dürfen schon auf die Ergebnisse ihrer Dissertationsprojekte gespannt sein.

Rezensiert von Bernd Robionek (Berlin)
E-Mail: bernd-robi@web.de

 


[1] Woodward, Susan L.: Socialist Unemployment. The Political Economy of Yugoslavia, 1945-1990. Princeton NJ 1995. S. 197 f.

 

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