Brunnbauer, Ulf, Voss, Christian (Hrsg.): Inklusion und Exklusion auf dem Westbalkan. 45. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in Tutzing 9. – 13.10. 2006. München: Verlag Otto Sagner, 2008. ISBN: 978-3-86688-021-4, 32 Euro.
„Wer gehört dazu? Und wozu? Und wer gehört nicht dazu? Und warum?“ (7) Diese Fragen standen im Mittelpunkt der 45. Internationalen Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in Tutzing 2006. Der daraus hervorgegangene Sammelband versucht im interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs verschiedene Aspekte von Inklusions- und Exklusionsmechanismen zu betrachten. In 15 Beiträgen werden die Länder Albanien, Bosnien-Herzegowina, Griechenland, Kosovo, Kroatien, Makedonien, Montenegro und Serbien behandelt. Der thematische Fokus liegt auf den Problemen der ethnischen und nationalen Abgrenzung, der politischen Integration von Minderheiten und der Historiographie einzelner Nationen. Sprache und Geschichte bilden dabei einen besonderen Schwerpunkt. Im ersten Teil des Sammelbandes stehen die politischen Dimensionen, im zweiten die Identitätskonstruktionen und im dritten die sozialen und kulturellen Grenzen im Zentrum der Betrachtungen. Diese Struktur verspricht eine inhaltliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten von In- und Exklusionsmechanismen, ein Versprechen, dass das Buch aufgrund der Konzentration auf ethnische und nationale Ausgrenzungsprozesse leider nicht vollständig einzuhalten vermag. Einige Beiträge lassen sich zudem nur bedingt nach einem solchen Schema differenzieren.
Der Beitrag von Wim van Meurs (25-40) bietet einen gut komprimierten Überblick über Fortschritte der einzelnen Staaten in Bezug auf die Beitrittsperspektiven zur Europäischen Union. Er kann so als Hintergrundinformation zu den folgenden Fallbeispielen angesehen werden. Zudem diskutiert van Meurs kompakt und anschaulich die Problematik einer fehlenden Strategie seitens der Europäischen Union für die Integration der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien.
Dem für das Thema erkenntnisverheißenden Bereich der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen widmen sich leider nur zwei kurze Aufsätze. Gustav Auernheimer schreibt über die strukturellen Ursachen einer schwach ausgeprägten Zivilgesellschaft in Griechenland (41-51). Angeführt werden eine fehlende Trennung zwischen Religion und nationaler Identität und eine „dreifache Dominanz der Politik“ (45). Den sehr allgemeinen gehaltenen Ausführungen fehlt leider die analytische Tiefe, zudem endet der Beitrag mit sehr verallgemeinerten Fragestellungen der Nationalismusforschung ohne jedoch auf diese einzugehen. Nathalie Clayer hingegen beschreibt unter weitgehendem Verzicht auf theoretische Ausführungen informativ die zivilgesellschaftliche Verankerung islamischer Organisationen in Albanien und den albanischsprachigen Gebieten des Kosovos und Makedoniens (53-64). Sie zeigt auf, wie diese nicht nur religiöse Aufgaben, sondern auch zivilgesellschaftliche Funktionen übernehmen. Ein stärkeres, auch theoretisches Eingehen auf die schwierigen zivilgesellschaftlichen Bedingungen in diesen Ländern wäre hingegen hilfreich gewesen, um die reichhaltigen Informationen des Beitrags besser einordnen zu können.
In allen drei Abschnitten des Bandes finden sich Beiträge, die sich mit der politischen Dimension multinationaler Gesellschaften beschäftigen. Trotz dieser etwas unglücklich gewählten Struktur zeigen die sich ergebenden Vergleichsmöglichkeiten die Stärken der einzelnen Beiträge. Enver Hoxhaj (83-106) diskutiert in seinem 2007 zum Zeitpunkt der Statusverhandlungen geschriebenen Beitrag die auch heute noch aktuelle Frage, wie Kosovo als stabiler multiethnischer Staat unter Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppierungen organisiert werden kann. Die Souveränität des Staats werde, so Hoxhaj, durch die Zugeständnisse an die serbische Minderheit in Frage gestellt. Diese prinzipiell berechtigten Bedenken versucht Hoxhaj jedoch mit einer problematischen Rezeption nationalstaatlicher Konzepte (ethnic vs. civic) zu untermauern. Im Kern wirft er den westlichen Staaten Wunschdenken vor, wenn sie der Region ein inkompatibles Konzept der Staatsbürgernation (civic) überstülpen wollen und dabei die ethnonationalen Realitäten (ethnic) nicht genügend anerkennen. Problematisch daran ist, dass dadurch das Ethnische zum zentralen Prinzip erhoben wird, dem sich das Zivilstaatliche unterordnen muss.
In Bosnien-Herzegowina lässt sich beobachten, wie schwierig eine solche Inklusion aller Bevölkerungsgruppen in einen funktionierenden Staat zu erreichen ist. Die Auswirkungen eines ungebrochenen Ethnozentrismus beschreibt Hannes Grandits (65-81) am Beispiel der Trebinje-Region in Bosnien. Reformen werden durch die divergierenden Machtinteressen ethnisch basierter Parteien blockiert. Die Unterstützung in der Bevölkerung erhalten die Parteien aufgrund einer „Logik des Misstrauens“ (67), wonach „man gegen die eigenen Interesse agieren würde, würde man nicht ‚national’ wählen“ (78). Diese Betrachtungen werden durch den Beitrag von Stephan Lipsius (243-261) am Ende des Sammelbandes ergänzt, in welchem er die Situation der albanischen Parteien in Montenegro während der vergangenen Parlaments- und Regionalwahlen (2002 und 2006) sowie deren Rolle im Unabhängigkeitsreferendum 2006 untersucht. In dokumentarischen, sich auf Wahlergebnisse und Koalitionskonstellationen konzentrierenden Ausführungen stellt er fest, dass das politische Spektrum in Montenegro nicht ausschließlich nach ethnischen Kategorien gegliedert ist. Politische Differenzierung und innerparteiliche Konflikte haben zudem den Einfluss der albanischen Parteien in der Regierung Montenegros reduziert. Jedoch muss die Annahme einer sinkenden ethnischen Ausrichtung der Parteien kritisch betrachtet werden, da die sich ändernden Wahlbündnisse auch einem strategischen Handeln der stark auf Personen und Klientel ausgerichteten Parteien zugrunde gelegt werden können und die ethnische Segregation bedeutsam bleibt.
Die Geschichtswissenschaft nimmt in den Prozessen gegenseitiger Abgrenzung eine zentrale Position ein. Sabina Ferhadbegović (131-140) betont, wie die Historiographie in Bosnien sozialpsychologische und politische Funktionen übernimmt, indem sie Stabilität herstellen und politische Ziele legitimieren muss. Die Bestrebungen, eine eigene nationale Geschichte zu schreiben, gehen immer mit der Verleugnung des Heterogenen, einer Idealisierung des Eigenen und der Abwertung des Anderen einher, was nicht nur im bosnischen Fall zu einer nationalen Fragmentierung der Geschichtswissenschaft führt. Robert Pichler (107-129) zeigt am Beispiel Makedoniens, wie die albanische Minderheit versucht, ihren Status durch das Etablieren ihrer eigenen Nationalgeschichte in der Bildungspolitik zu verbessern. Daraus resultiert eine Tendenz der gesellschaftlichen Segregation durch parallele Bildungssysteme und eine dramatische Reduzierung der gemeinsamen und europäischen bzw. globalen Geschichte zugunsten der Minderheitengeschichten im Unterricht. Der Beitrag fokussiert auf die albanischen Bestrebungen, eine eigene Nationalgeschichte zu entwickeln, was jedoch auch für die makedonische Seite und generell für Nationen der gesamten Region angenommen werden muss.
Im selben Kontext ist auch der Beitrag von Dane Taleski (263-280) zu sehen, der meines Erachtens zusammen mit dem Beitrag von Stephan Lipsius am Schluss des Sammelbandes fehlplaziert ist, da sie beide die politische Dimension von Exklusion beleuchten. Taleski gibt anhand von verschiedenen Meinungsumfragen einen kurzen Überblick über die Entwicklungen in Makedonien nach der Implementierung des Ohrider Rahmenabkommen (ORA). Obwohl sich die Einstellungen zu politischen Institutionen zwischen Makedoniern und Albanern ähneln, ein Faktor, den Taleski als Indiz für eine gemeinschaftliche staatsbürgerliche Identität ansieht, dient das ORA den politischen Eliten weiterhin zur ethnonationalen Mobilisierung. Trotz der stark vereinfachten Auffassung von staatsbürgerlicher und ethnischer Identität und der darin enthaltenen optimistischen Perspektive, unterstreicht der im Stil einer Präsentation geschriebenen Text von Taleski eine anhaltende ethnische Polarisierung multinationaler Gesellschaften.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt des Sammelbandes ist die Frage nach der Funktion von Sprache bei nationalen Zugehörigkeitskonstruktionen. Hier werden die Stärken interdisziplinärer Forschung deutlich, da sie die Widersprüche der „Logik des Ethnonationalismus“ (161) aufzuzeigen vermag. Zwei Beiträge beschreiben sehr anschaulich, dass die Gleichsetzung von Sprache und Nation keineswegs eindeutig ist, sondern dass in der Realität vielfältigere und komplexere Identitätskonstruktionen möglich sind. Christian Voss (161-185) beschreibt, wie ethnische Selbst- und Fremdzuschreibungen einer nationalen Gruppe miteinander in Widerspruch stehen können. Sprache kann der Religion untergeordnet sein, wie bei den Torbeschen in Makedonien und den Pomaken in Griechenland. Sie kann Symbolcharakter besitzen, wie die griechischsprachigen Bulgaren zeigen, diesen aber auch verlieren, wie bei den Arvaniten in Griechenland. Nicht zuletzt kann eine kollektive Identität auch auf sozialem Status beruhen, so bei den urbanen Muslimen in Makedonien, den so genannten Şehirli. Tanja Petrović (187-199) schildert anhand unterhaltsamer Beispiele Fremdheitserfahrungen innerhalb einer nationalen Gruppe aufgrund eines anderen Dialekts am Beispiel der Ijekavisch sprechende Serben bzw. Ekavisch sprechende Kroaten. Die Fluchtbewegungen haben zwar eine ethnische Homogenisierung, zugleich aber auch eine sprachliche Diversifizierung geschaffen, was neue innergesellschaftliche Spannungen verursacht. Mit differenzierten empirischen Belegen versuchen beide Autoren den Ethnonationalismus kritisch zu betrachten, allerdings verbleibt insbesondere Christian Voss in seiner Argumentation letztendlich dem Ethnischen verhaftet, das einer Gruppe nach Sprache, Religion oder Herkunft einen gesonderten Status zuteilt und somit eine Bewegung vom Universellen zum Partikularen hin mitbegründet.
Der dritte Abschnitt des Sammelbandes umfasst unter der Überschrift „Soziale und kulturelle Grenzen“ Beiträge, die sich mit unterschiedlichen sozialen Aspekten beschäftigen und wirkt in seiner Gesamtheit am wenigstens konsistent. Eben Friedmanns (201-216) Beitrag zu den Roma auf dem Westbalkan leidet unter dem Anspruch, auf 15 Seiten sowohl einen gesamthistorischen Überblick als auch einen differenzierten Blick auf postkommunistische Entwicklungen innerhalb der einzelnen Staaten des Westbalkans liefern zu wollen. Folgerichtig kann jedoch nur eine stichwortartige Erwähnung grundlegender Fakten über Roma in der Region geleistet werden. Armanda Hysa (217-229) präsentiert Fragen des sich in Albanien formierenden Forschungsbereichs einer urbanen Anthropologie. Von besonderem Interesse sind hierbei die in kürzester Zeit entstandenen Vororte um Tirana und die neuen Beziehungen zwischen Peripherie und Zentrum, deren Verständnis nach Hysa Aufgabe weiterer Forschung sein muss. Zwei Beiträge des Sammelbandes basieren auf Grundlage von durchgeführten Interviews. Ruth Seifert interviewte die zumeist unbeachtete, direkt vom Konflikt betroffene Bevölkerung zu ihren Erfahrungen während des Krieges (141-160). Die Ergebnisse machen deutlich, wie erst in Krisenzeiten ethnonationale Zuschreibungen wirksam werden. Seiferts Beitrag ist überdies eine gelungene Symbiose von empirischem Material und konzeptuellen Ausführungen. Lidija Stajanovik-Lafazanovskas soziologische Studie zu makedonischen Migranten in Hamburg (231-242) verfolgt die Frage, wie Migrationserfahrung und Fremdheitsgefühle reflektiert werden und wie diese zu einer Transformation des Habitus führen können. Die Ergebnisse zeigen, dass bei den Migranten mit Ausnahme der Intellektuellen und der zweiten Generation keine strukturelle Veränderung des Habitus beobachtbar ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Beiträgen des Buches sind ihre Ausführungen durch dichte soziologische Theoriekonzepte (insb. Pierre Bourdieu) untermauert. Leider leidet durch die starke Abstraktion der Ergebnisse etwas die Anschaulichkeit der Untersuchung, welche durch eine beispielhafte Beschreibung der interviewten Personen hätte erreicht werden können.
Insgesamt ist der Band eine gelungene Sammlung interessanter Studien zu unterschiedlichen Aspekten von In- und Exklusion. Den mehrheitlich deskriptiven Beiträgen mangelt es teilweise an einer Synthese von Theorie und Empirie, und neue Ansätze, welche verstärkt eine vergleichende Perspektive beinhalten und zusätzlich vermehrt auf die sozialen und sozialpsychologischen Aspekte von Ausgrenzungsprozessen eingehen, wären wünschenswert gewesen. Jedoch lassen sich aus der Gesamtheit der Beiträge aufschlussreiche Vergleiche ziehen, welche ein kohärentes Bild der Region ergeben.
Rezensiert von Hans Lempert (Berlin)
E-Mail: hans.lempert@gmx.net
Schlagwörter
- Belgrad, Roma, Jugoslawien