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Rezension 46

Rezension 46 vom 21.11.2006

Dietmar Müller: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzeptionen, 1878-1941, Wiesbaden: Harrassowitz, 2005 (Balkanologische Veröffentlichungen, Band 41). 537 Seiten. ISBN 3-447-05248-1; Euro 98.-

 

Wir-Gruppen brauchen jemanden oder etwas, von dem sie sich absetzen - sie können ohne eine Differenz zur Außenwelt nicht existieren. Das ist spätestens seit Georg Elwert weithin bekannt, und doch liegt jeder kollektiven Identität ein eigener Bauplan zugrunde.(1) Dietmar Müller hat in seiner im Jahr 2004 an der FU Berlin (Osteuropa-Institut) verteidigten Dissertation nach dem Gegenüber des rumänischen und serbischen Nationalismus in der Zeit zwischen dem Berliner Kongress und dem Zweiten Weltkrieg gesucht. Dabei ist er auf einen konstanten „Kerngegner“ gestoßen - Juden im rumänischen und (muslimische) Albaner im serbischen Fall. Im späten 19. Jahrhundert, so Müller, habe sich in den Eliten beider Länder ein „Nationscode“ herausgebildet, ein mehr oder weniger stabiles Zeichensystem, wo das „eigene“ mit Zivilisation und Fortschritt, der „andere“ dagegen mit orientalischer Fremdheit, Rückständigkeit und zweifelhafter Moral in Verbindung gebracht wurde.

Ihre Langlebigkeit, das zeigt die Untersuchung deutlich, verdankten die Nationscodes keineswegs ihrer inneren Schlüssigkeit. Stattdessen enthielten sie widersprüchliche Elemente, die je nach Situation aktualisiert werden konnten. So galten die aschkenasischen Juden, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in großer Zahl aus dem Zarenreich und aus Galizien nach Rumänien eingewandert waren, einerseits als fortschrittsfeindlich und primitiv. Andererseits wurden sie als Vertreter urbaner Amoral und als Kern eines gesellschaftlichen „Superstrats“ (Mihai Eminescu) gesehen, welches das (idealisierte) rumänische Bauernvolk in dessen eigenem Nationalstaat unterdrücke. Serbische Intellektuelle und Politiker diffamierten die Kosovo-Albaner mal als Kollaborateure der Osmanen, mal als prinzipiell zur Staatenbildung unfähiges archaisches Relikt, mal als Krypto-Serben, die man zu ihrer wahren Identität zurückführen müsse. Besonders für den rumänischen Fall typisch war die essentialistische Sicht auf das Judentum, dem ewige Eigenschaften zugeschrieben wurden, die ein harmonisches Zusammenleben mit Rumänen angeblich unmöglich machten.

In beiden Fällen besaß der Nationscode eine Art „Immunsystem“ gegen Selbstkritik: Gedanken über die mögliche eigene Intoleranz konnten gar nicht aufkommen, weil man „per se“ die Zivilisation und (west-)europäische Werte vertrat, die andere Seite dagegen das zu überwindende dunkle Erbe. Die multinationalen Reiche, aus denen man hervorgegangen war, wurden zu diesem Erbe gezählt. So war für den rumänischen Ministerpräsidenten Ion C. Bratianu nur ein Nationalstaat auch ein starker Staat. Um jeden Preis wollte er in der Verfassungsdebatte der frühen zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts einen starken Status der Minderheiten verhindern, damit Großrumänien dem „unglückseligen“ Österreich-Ungarn nicht zu ähnlich werde (255).

Da man dem eigenen Nationalcharakter religiöse Toleranz als nahezu genetische Eigenschaft zuschrieb, konnten auch hier keine Zweifel aufkommen. Als „Beweis“ für diese Toleranz diente dann das Verhältnis zu „ungefährlichen“ Minderheiten, die man teilweise sogar umwarb - etwa die Muslime in Rumänien und die Juden in Serbien. Müller stellt daher fest, dass für die Nationscodes ein einziges Gegenüber ausgereicht habe (139). Er zeigt aber am Beispiel des rumänischen religiösen Nationalismus („Gândirismus“) der dreißiger Jahre, wie der Antisemitismus schließlich in ein allgemein xenophobes Weltbild übergehen konnte. So schätzte der Theologe Nichifor Crainic die Juden zwar als ärgsten Feind ein, betonte aber gleichzeitig, dass sie gemeinsam mit den anderen Minderheiten an der Schwächung des rumänischen „Nationalkörpers“ arbeiteten (309).

Dietmar Müller liefert einen wichtigen Beitrag zu der von Maria Todorova angestoßenen Debatte über den „Orientalismus“ der Westeuropäer, die durch essentialistische Zuschreibungen den Balkan überhaupt erst konstruiert hätten. Er zeigt nämlich, dass es orientalistische Projektionen auch innerhalb der südosteuropäischen Gesellschaften gab (20). Die Ausgrenzung der „Anderen“ geschah unter expliziter Berufung auf das westeuropäische Fortschrittsideal, dem Juden bzw. muslimische Albaner vermeintlich im Wege standen. Eine große und schwer zu beantwortende Frage ist, ob dieser Befund die Westeuropäer von Todorovas Vorwurf wirklich entlastet. Sicher, die Balkaneliten haben westeuropäische Modelle teilweise missverstanden - etwa wenn sich rumänische Intellektuelle auf das französische Nationsverständnis beriefen. Damit meinten sie die nationale Homogenität Frankreichs, ersetzten aber dessen politischen Nationsbegriff mit einem ethnischen (3). Teilweise haben sie die westeuropäischen Modelle auch missbraucht - etwa wenn serbische Politiker den Kosovo-Feldzug des Jahres 1912 als Einführung von Demokratie und Fortschritt rechtfertigten, ohne die albanische Mehrheit an diesen Gaben teilhaben zu lassen (190). Auch erinnert Müller daran, dass im Modell des liberalen Nationalstaates Minderheiten und kollektive Sonderrechte zunächst nicht vorkamen (229), so dass auch das Modell selbst ein Teil des Problems war.

Andererseits wird aus der Arbeit deutlich, dass sich die westeuropäischen Demokratien nicht immer Mühe gaben, den Missbrauch „zivilisatorischer Werte“ einzudämmen. So verzichtete die deutsche Reichsregierung im Jahr 1879 darauf, Rumänien zur Durchsetzung des auf dem Berliner Kongress vereinbarten Minderheitenschutzes zu drängen; zuvor hatte die rumänische Führung einer für Berliner Finanzkreise günstigen Lösung der Eisenbahnfrage zugestimmt (81f.). Nach dem Ersten Weltkrieg gelang es den Alliierten zwar, Rumänien die Einbürgerung seiner jüdischen Bevölkerung abzuringen - auf eine stärkere Thematisierung der Minderheitenfrage verzichteten sie aber, auch weil man das Land als cordon sanitaire gegen die Sowjetunion brauchte (225, 233). Fragwürdig war auch die Haltung der britischen Öffentlichkeit gegenüber der serbischen Kosovo-Propaganda während des Ersten Weltkriegs - allzu gern glaubte man hier an die Selbstvorstellung Serbiens als märtyrerhaftem Vorposten der Christenheit. Das Schicksal der muslimischen Bevölkerung in den zu „befreienden“ Gebieten geriet dagegen schnell aus dem Blick (416).

Dietmar Müller hat seine Arbeit als asymmetrischen Vergleich gestaltet, wobei die Darstellung des rumänischen Falls etwa zwei Drittel des Buches ausmacht. Daran ist nichts Verwerfliches, denn auch in die serbischen/jugoslawischen Zustände ist er tief genug eingedrungen. Insgesamt hebt Müller mehr die Ähnlichkeiten zwischen seinen beiden Vergleichspartnern hervor, aber er stellt auch Unterschiede fest. So sei die Andersartigkeit bei den rumänischen Juden sehr viel weiter durchkonstruiert worden als bei den Muslimen in Serbien/Jugoslawien (21). Denn die serbische Elite versuchte über weite Strecken, den slawischen Islam in Bosnien für sich zu gewinnen; außerdem glaubte sie an die serbische Abstammung eines Teils der Kosovo-Albaner. Während der rumänische Alteritätsdiskurs vor allem von unzufriedenen Intellektuellen geführt wurde, die erst im Laufe der Zeit Einfluss auf das Regierungshandeln gewannen, saßen die Schöpfer des serbischen Nationscodes von vornherein in der Regierung (106).

An eine methodologische Glaubensfrage rührt Müller durch seine Entscheidung, die Arbeit ganz überwiegend als Diskursanalyse zu gestalten. Sicher ist es richtig, dass in der Politik „nur getan werden kann, was vorher gedacht wurde“ (23). Die weitere Darstellung zeigt dann auch eindeutig die politische Relevanz der Diskurse, denn ein großer Teil der Konzeptionen wurde (leider) in die Tat umgesetzt. Während Müller die „Politikfelder der Staatsbürgerschaft“, wie er sie nennt, vollkommen ausreichend beleuchtet, erfahren wir nur wenig zur Motivation, zum persönlichen Hintergrund und den Netzwerken der Diskursagenten. Ähnliches gilt, wenn auch in geringerem Ausmaße, für die gesellschaftlichen Zustände, auf die sich die Intellektuellen bezogen, also für die reale Begegnung von Juden und Rumänen in der Moldau oder zwischen Albanern und der serbischen Staatsmacht im Kosovo. Wie gestalteten sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Juden, Bojaren und rumänischen Bauern? Gab es für den serbischen Staat eine Möglichkeit, die albanischen Stämme in seine Herrschaftsstrukturen zu inkorporieren, und wurde diese genutzt? Oder ganz generell: Wie weit war der Abstand von Diskurs und Wirklichkeit? Haben wir es bei den Diskursen mit rein ideologischen „Erfindungen“ zu tun oder handelt es sich vielmehr um intellektualisierte volkstümliche Vorstellungen? Vielleicht hätten diese Fragen den Rahmen der Arbeit gesprengt - dennoch tauchen sie beim Lesen auf. Wünschenswert wären auch summarische Informationen zum Diskurs der Gegenseite gewesen, also darüber, wie eigentlich jüdische bzw. albanische Eliten über ihr Verhältnis zur nationalen Mehrheit dachten.

Mit dem gewählten Nationscode, das zeigt Müller deutlich, schadeten die herrschenden Eliten der Stabilität und dem Wohlstand ihres Staatswesens. Der jüdischen bzw. albanischen Minderheit wurde staatsbürgerliche Loyalität praktisch unmöglich gemacht; an anderen Minderheiten Rumäniens der Zwischenkriegszeit kann ähnliches demonstriert werden. Ein wirtschaftspolitisches Projekt wie die jugoslawische Landreform wurde von vornherein zur Zurückdrängung der Albaner missbraucht, wogegen wirtschaftliche Erwägungen in den Hintergrund treten mussten - mit dem Ergebnis, dass das albanische wirtschaftliche Potential zerstört und ein serbisches nicht erfolgreich aufgebaut wurde (204, 442f.). Ähnliches gilt für den rumänischen Versuch von 1936, ethnische Quoten in der Privatwirtschaft durchzusetzen (405ff.).

Geschichten, wie sie Müller erzählt, können kein glückliches Ende haben. Im Jahr 1938 wurde beinahe der Hälfe der rumänischen Juden die Staatsbürgerschaft wieder entzogen, die verbliebenen wurden zu Staatsbürgern zweiter Klasse, differenziert in verschiedene Kategorien. Etwa 250.000 Juden fielen der rumänischen Variante des Holocaust zum Opfer, d.h. sie starben „teilweise in pogromartigen Übergriffen und größtenteils an Mangelerkrankungen, weil die rumänischen Behörden sich weder um ihre Unterbringung, noch um ihre Verpflegung adäquat kümmerten“ (475). Der verantwortliche Diktator Antonescu nannte die Entfernung der Juden aus Wirtschaft und Gesellschaft „Reinigung von Unkraut“; Müller sieht ihn damit „erkennbar inmitten des orientalistisch strukturierten rumänischen Nationscodes“ (471). Trost gibt es kaum. Auch die Erkenntnis, dass staatliche Korruption manchem Kosovoalbaner half, sich vor Landreform und Kolonisierung zu schützen (453), ändert nichts am düsteren Gesamtbild. Zur Vorbeugung von Rückfällen empfiehlt der Autor die „Implementation von Kollektivrechten in einer von Fall zu Fall abzustimmenden Mischung aus Lokal-, Kultur- und Territorialautonomie“ (483).

Rezensiert von Klaus Buchenau (buchenau@zedat.fu-berlin.de).

 

(1) Georg Elwert: Nationalismus und Ethnizität, Über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989) 3, S. 440-464.

 

 

 

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