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Rezension 41

Rezension Nummer 41 vom 27.04.2006

 

Carmen Scheide: Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel der Moskauer Arbeiterinnen (= Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas 3, Zürich: Pano-Verlag, 2002), 390 S., ISBN 3-907576-26-8; Euro 33.-

 

Rezensiert von: Ulf Brunnbauer (Wedding)

 

Die Geschichte der Frauen in der Sowjetunion während der Neuen Ökonomischen Politik hat in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven zunehmendes Interesse, insbesondere von US-amerikanischen Historikerinnen, auf sich gezogen. In dieses Feld, das unter anderem durch Elizabeth Woods Untersuchung der Frauenabteilung des Zentralkomitees (ženotdel) sowie Wendy Goldmans Arbeiten über sowjetische Familienpolitik und die Situation der Industriearbeiterinnen abgesteckt wird,(1) situiert sich die hier besprochene Studie, die auf eine im Jahr 1999 in Basel verteidigte Dissertation zurückgeht. Carmen Scheide zielt auf die Verbindung von frühsowjetischer Gender- und Alltagsgeschichte, wobei sie auf die Frauenpolitik und die diskursiven Frauenbilder einerseits und die reale soziale Situation von Frauen – mit Schwerpunkt auf Arbeiterinnenmilieus in Moskau – andererseits fokussiert. Als zentrale Ziele formuliert sie dabei die Dekonstruktion des zeitgenössischen Bildes der „rückständigen“ Frauen als männliche Sichtweise sowie die Analyse der Stabilisierung männerdominierter Geschlechterverhältnisse im Laufe der 1920er Jahre.

Die Bandbreite der Themen, welche die Autorin behandelt, ist beachtlich aber auch nachvollziehbar, denn konkrete Geschlechterverhältnisse am Arbeitsplatz und in der Familie sind durch komplexe politische, sozioökonomische sowie kulturelle Praktiken und Traditionen determiniert. Grundsätzlich zerfällt die Arbeit in drei in etwa gleich große Teile: Zuerst skizziert Scheide die sowjetische Frauenpolitik seit der Oktoberrevolution, mit einem Schwerpunkt auf Diskussionen innerhalb des ženotdel, sowie die Debatten um die sozialistische Alltagskultur, über die sich Trockij und andere Bolschewiki den Kopf zerbrochen haben (39–108). In Teil zwei geht es um Diskurse über die Geschlechterordnung des Kommunismus, über Frauenbilder sowie Entwürfe für die kommunistische Normalbiografie (109–196). Der Hauptteil beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten des sozialen und ökonomischen Daseins von Frauen im Untersuchungszeitraum, mit einem Fokus auf Arbeiterinnen in Moskau (197–346). Hier geht es nicht nur um das Erwerbs- und Familienleben, sondern auch um Fragen der Politisierung sowie des Alltags, wobei die Autorin den Alkoholismus der Männer als besonderes Problem herausstreicht. Einige Tabellen und Abbildungen, eine umfangreiche Bibliografie sowie ein Register runden das Werk ab.

Die Bilanz der Lektüre fällt zwiespältig aus: Einerseits gelingt es der Autorin, ein sehr plastisches Bild der Lebenssituation von Frauen in proletarischen Milieus zu zeichnen. Das von der Autorin detailliert dargestellte Ausmaß an durch zeitgenössische Schwierigkeiten und historische Traditionen geschaffenen Problemen verdeutlicht, vor welcher herkulischen Aufgabe jene Frauen standen, welche den Kommunismus als Chance der Frauenbefreiung sahen. Eine besondere Stärke der Autorin ist, Frauen konsequent als Akteurinnen und Subjekte ihrer Geschichte, die unter extrem widrigen Bedingungen ablief, darzustellen und zu versuchen, Diskurse mit sozialer und ökonomischer Praxis rückzukoppeln.

Andererseits hat das Buch aber auch gravierende Schwächen – die Dissertation hätte von einer gründlichen Überarbeitung vor der Drucklegung zweifelsohne profitiert. Abgesehen von einigen Fehleinschätzungen (z.B. dass Stalin dem Alltag keine politische Bedeutung zugemessen hätte, S. 108) und der störenden Überstrapazierung des Passivs (so dass oft nicht klar wird, wer denn nun dies oder jenes sagte oder dachte), mindern vor allem zwei Aspekte den Wert der Arbeit: Erstens fehlt es vielfach an Fokussierung, insbesondere weil weite Teile der Arbeit nicht unmittelbar mit Moskauer Arbeiterinnen zu tun haben, die Autorin aber oft nicht klar macht, in welcher Beziehung die allgemeinen Entwicklungen mit ihrem konkreten Fallbeispiel (Moskau) stehen. So fehlt auch eine wirkliche Auseinandersetzung mit der existierenden Literatur über Arbeiterexistenzen in Moskau.(2)

Zweitens gibt es an zentralen Stellen ein Missverhältnis zwischen relativ dünner empirischer Basis und weitgehenden Schlussfolgerungen. Hauptquelle des dritten Teils, in dem die Lebenssituation der Arbeiterinnen beschrieben wird, ist ein Sammelband mit Lebenserinnerungen von 14 Arbeiterinnen, publiziert im Jahr 1932. Abgesehen davon, dass diese Quelle viel kritischer hätte hinterfragt werden müssen, als dies die Autorin tut (198f.), sollte von einer solchen Basis nicht auf „die Frauen“ und „meisten Arbeiterinnen“ etc. in Sowjetrussland hochgerechnet werden (wie z.B. auf S. 223 oder 307). Solche Quellen, die unter Bedingungen einer Diktatur mit weitreichender Zensur entstanden sind, sind ja oftmals weniger aufgrund ihrer Aussagekraft über die „soziale Wirklichkeit“, sondern über die Muster der Internalisierung ideologischer Tropen von Interesse. So würden sich diese Autobiografien für die Analyse der Konstruktion von Subjektivität entlang offizieller Kategorien anbieten. Die Autorin übernimmt aber vielfach die Kategorien ihrer Quelle (z.B. bei der Diskussion der Stoßarbeit, S. 296), ohne zu hinterfragen, inwieweit die Autobiografien auch abseits direkten Eingriffs des Zensors ideologische Vorstellungen reflektieren.

Insgesamt leidet die Arbeit an einem Zuwenig an Analyse und einem Zuviel an Inhaltswiedergabe von publizierten Quellentexten, weshalb sie eher den Spezialistinnen und Spezialisten in diesem Feld, die ihr Wissen um interessante Details bereichern wollen, empfohlen werden kann. Die Bibliografie, die in „zeitgenössische Literatur und Sekundärliteratur“ geteilt ist, kann den zwiespältigen Eindruck leider nicht aufhellen: Was haben z.B. August Bebel, Karl Marx und Friedrich Engels unter „zeitgenössischer Literatur“ zu suchen?

 

 

(1) Elizabeth A. Wood: The baba and the comrade: gender and politics in revolutionary Russia (Bloomington 2000); Wendy Z. Goldman: Women, the State and revolution: Soviet family policy and social life, 1917–1936 (Cambridge 1993); dies.: Women at the Gates. Gender and Industry in Stalin‘s Russia (Cambridge 2002), insbes. 5–68.

(2) Z. B. William Chase: Workers, society, and the Soviet state: labor and life in Moscow, 1918–1929 (Urbana 1990).

 

Rezensiert von Ulf Brunnbauer

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