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Rezension 4

Rezension Nummer 4 vom 16.11.2003

 Lucian Boia: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft. Übersetzt aus dem Rumänischen von Annemarie Weber unter Mitwirkung von Horst Weber. (= Studia Transylvanica, Bd. 30) Köln, Weimar u. Wien: Böhlau Verlag 2003, 291 S., ISBN 3-412-18302-4, 27,90 €

 

Rezensiert von: Konrad Petrovszky (Berlin)

 

 Man könnte meinen, dass die Beschäftigung mit „Gedächtnisorten“ und „Erinnerungskulturen“, mit „Stereotypie“ und „Alterität“ sich in der Geschichtswissenschaft längst etabliert hätte. Das textualistische und in hohem Maße selbstreflexive Geschichtsverständnis verfügt noch immer über ein provokatives, ja subversives Potential. Das zeigt im rumänischen Kontext das Werk des Historikers Lucian Boia. Bei „Istorie şi mit în conştiinţa românească“ (Geschichte und Mythos im rumänischen Bewusstsein), das jetzt unter dem Titel „Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangen in der rumänischen Gesellschaft“ in deutscher Übersetzung vorliegt, handelt es sich ohne Zweifel um das spektakulärste Buch, das von der rumänischen Nachwende-Historiographie hervorgebracht wurde. Boia ist damit – soweit der Rezensent informiert ist – der einzige Historiker, der nach 1989 ins Deutsche übersetzt wurde.(1) Die vorliegende Übersetzung folgt der dritten Auflage von 2002 des zuerst 1997 erschienen Buches. Mit einem eigens für die deutsche Ausgabe verfassten Vorwort sowie den zwei Vorreden zu den rumänischen Neuauflagen versehen, dokumentiert die Ausgabe zugleich die Geschichte eines Werkes, das in Fachkreisen eine anhaltende Diskussion entfachte und sich zudem eines ungewöhnlichen Publikumserfolgs erfreute.

 

Die unbestrittene Leistung von „Geschichte und Mythos“ besteht darin, auf vermintes Terrain vorzustoßen und das nationalgeschichtliche Pantheon auf schonungslose Weise zu demontieren. Vor einer inhaltlichen Präsentation des Buches sind daher einige Bemerkungen zu Kontext und Methode des Unterfangens angebracht: Lucian Boia, Professor an der Universität Bukarest, ist seit den späten 80er Jahren mit Studien zur Historiographiegeschichte sowie zur historischen und politischen Imagologie hervorgetreten.(2) 1993 gründetet er das Centrul de istorie al imaginarului (Zentrum für Geschichte des Imaginären), das zwei Sammelbände zur rumänischen Geschichtsmythologie hervorbrachte, auf deren Vorarbeiten sich der vorliegende Band weitestgehend stützt.(3) „Geschichte und Mythos“ ist gewissermaßen Kondensat dieser sehr viel detaillierteren Einzelstudien. Der brillant verfasste und provokant argumentierende Geschichtsessay versteht sich aber nicht nur als kritische Studie zur Interferenz von Geschichtsdeutung und politischer Instrumentalisierung, sondern zugleich auch als Plädoyer gegen den Missbrauch des historischen Arguments und für eine methodisch sensibilisierte Geschichtswissenschaft.

 

Im ersten Kapitel („Geschichte, Ideologie, Mythologie“), das nahezu ein Drittel des Buches einnimmt, entwirft Boia ein systematisch-chronologisches Panorama der rumänischen Geschichtsschreibung. Dabei stellt er deren einzelne Etappen und spezifische Geschichtsbilder eng in den Zusammenhang des gesellschaftlichen Modernisierungsdrucks und den Anforderungen des nationalen Projektes. Die Rückprojizierung der Nationsidee, die parteipolitische Indienstnahme einzelner Geschichtsepochen und -figuren sowie die großen Themen „Ethnogenese“, „Kontinuität“ und „nationale Einheit“ erscheinen hier von Anfang an mit der modernen rumänischen Geschichtskultur verwoben. Die Beharrlichkeit gewisser Themen weit über das 19. Jahrhundert hinaus, ihre konjunkturbedingte Aktualisierung und anhaltende Präsenz im gegenwärtigen Geschichtsdiskurs erklärt Boia mit der dauerhaften Modernisierungskrise der rumänischen Gesellschaft, der sozialen und politischen Instabilität, aber auch – und damit zusammenhängend – mit der sehr späten und partiellen Professionalisierung der rumänischen Geschichtswissenschaft. So bleibt das Nationale auch weiterhin die strukturierende Dominante, trotz kritischer „entmythologisierender“ Gegentendenzen wie der Junimea.(4) In den fünf darauffolgenden Kapiteln widmet sich Boia den großen Dauerthemen der rumänischen Geschichtsschreibung der letzten 200 Jahre (die Ursprünge, die Kontinuität, die Einheit, die Anderen, der ideale Fürst) und den von ihnen bestimmten Geschichtsentwürfen. Großen Raum nimmt dabei die Behandlung des rumänischen Kommunismus ein, der besonders in der letzten, nationalistischen Phase in bis dahin unbekanntem Ausmaß geschichtspolitisch und mythenbildend aktiv war.

 

Boias Gesamtüberblick gelingt es nicht nur, den epochenspezifischen Erwartungshorizont herauszustellen, auf den die Geschichtsmythologie antwortete, sondern auch frappierende Wiederanknüpfungen (wie im Falle des Dakismus) und auch kaum gebrochene Kontinuitäten nach 1989 (wie etwa in der Frage der nationalen Einheit und der Vorliebe für autoritäre Führungspersönlichkeiten) aufzuweisen. Dies wird nicht bloß anhand von Geschichtsdarstellungen im engeren Sinne erarbeitet, sondern auch am Beispiel kanonischer bzw. populärer Texte, politischer Auseinandersetzungen, Gedächtnisfeierlichkeiten und Fernsehdebatten. Die Bandbreite des herangezogenen Materials wird vom Gegenstand selbst vorgegeben: die Allgegenwärtigkeit des geschichtlichen Arguments, der Zwang zur historischen Rückversicherung. All das ist sicherlich keine Neuheit – siehe etwa die Arbeiten von Alexandru Zub(5) oder Katherine Verdery(6) – doch bislang noch nicht derart drastisch und präzise auf den Punkt gebracht worden.

 

In seiner schonungslosen Entlarvung des mythendurchwirkten und -produzierenden Umgangs mit Geschichte geht es Boia aber nach eigenem Bekunden weniger um die Demontage als um den Nachweis der Unhintergehbarkeit von Fiktionalität im Umgang mit der Vergangenheit. Dem Mythos kommt vielmehr die quasi-anthropologische Grundfunktion zu, vergangene Lebenswelten in Bezug auf die gegenwärtige sinnhaft zu strukturieren. In diesem Sinne ist der Mythos unhintergehbar und historisches Denken teilt mit ihm ebendiese Orientierungsfunktion, die sich dann, wie das Buch bemüht ist aufzuzeigen, in der einen oder anderen narrativen Bewältigungsstrategie äußert. Somit möchte Boia seine Dekonstruktion rumänischer Geschichtsmythen von einem relativistischen, „metahistorischen“ Geschichtskonzept (nach Hayden White) aus verstanden wissen. Konsequenterweise ist er dann auch bereit, um der notwendigen Pluralisierung der Meinungen willen den Preis des Statusverlusts der historischen Zunft zu bezahlen.(7)

 

Wo die Grenzen eines solchen Ansatzes erreicht sind, zeigt sich freilich in der Frage nach Anschlussfähigkeit des Mythos-Begriffs, den Boia sowohl denunziatorisch als auch deskriptiv verwendet. Der von seinen Kritikern geäußerte Vorwurf des Einseitigen und der relativistischen Beliebigkeit hat insofern (und nur insofern) seine Berechtigung, als tatsächlich in inflationärer und unpräziser Weise von „Mythos“ die Rede ist – mal im Sinne einer wohldefinierten Sinnstiftungsfunktion kollektiver Art, als notwendige und unbewusste Deutungsvorgabe also, mal im Sinne von unredlicher Übertreibung und tendenziöser Verklärung, aber auch schlichtweg im Sinne von Lüge und Geschichtsklitterung. So fällt dann ziemlich schnell alles unter das einförmige Mythos-Verdikt, ob Vorurteil, Slogan, Zwangsvorstellung oder Klischee. Eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Voraussetzungen und Funktion einzelner Diskurse sowie deren Produzenten und Träger würde sicherlich zu einer Nuancierung und Schärfung des ikonographischen Zugangs beitragen.

 

Diese Erwägungen nehmen dem Buch jedoch nichts von seiner Bedeutung, die im rumänischen Kontext vor allem in der Erstmaligkeit des von ihm praktizierten Diskurstyps liegt. Zum einen bietet es tatsächlich eine von allem nationalen Rechtfertigungsdruck befreite Darstellung der rumänischen Geschichtskultur und ist nicht zuletzt um eine komparative europäische Perspektive bemüht ist. Zum anderen markiert es als Infragestellung nationalistischer Geschichtspolitik und Geschichtshypertrophie eine reflexive Wende innerhalb der rumänischen Historiographie, die die Diskussion um die Leistungsfähigkeit der Geschichtsschreibung und ihrer gesellschaftlichen Funktion auf eine neues Niveau hebt.

 

Einige kurze Bemerkungen zur Übersetzung erscheinen abschließend angebracht: Das Buch ist mit erläuternden Anmerkungen für den deutschen Leser sowie einem kommentierten Personenregister versehen. Die Übersetzung ist im Wesentlichen bemüht, den sehr dynamischen und den Fachjargon überschreitenden Sprachfluss des Geschichtsessays wiederzugeben. Leider erliegt die Übersetzung zuweilen – stellenweise sogar gehäuft – der Versuchung, die sowieso schon hinlänglich ironisch-polemische Sprache Boias noch verschärfen zu wollen. In den Textpassagen, die dem Kommunismus gewidmet sind, kippt die Übersetzung dann gelegentlich tatsächlich ins Reißerische: Durch willkürliche Auslassungen und kleinere Textzusätze wird teilweise stark vom Original abgewichen, der Text ins bloß Polemische verzerrt und mit Interpretamenten der Übersetzer angereichert. Lucian Boia würde sich wundern, an einer Stelle Thomas Mann zitiert zu sehen (S. 153). Die Tendenz zur kongenialen Überbietung ist in diesem Falle deplaziert und lässt sich auch mit übersetzungstechnischen Gründen nicht rechtfertigen.

 

Konrad Petrovszky

 

e-mail: k_petrovszky@hotmail.com

 

 

Anmerkungen

 

(1) Einzige Ausnahme Sorin Mitu: Die ethnische Identität der Siebenbürger Rumänen. Eine Entstehungsgeschichte im historischen Raum. Köln, Weimar u. Wien 2003, das zeitgleich in der Reihe Studia Transylvanica des Böhlau Verlags erscheint.

 

(2) Unter anderem sind auf Rumänisch und Französisch erschienen: Evoluţia istoriografiei române (Die Entwicklung der rumänischen Geschichtsschreibung), Bukarest 1974; L’Exploration imaginaire de l’éspace, Paris 1987; La fin du monde. Une histoire sans fin. Bukarest 1989; La mythologie scientifique du communisme, Caen u. Orléans 1993; Pour une histoire de l’imaginaire. Paris 1998; Două secole de mitologie naţională (Zwei Jahrhunderte nationaler Mythologie). Bukarest 1999.

 

(3) Mituri istorice româneşti (Rumänische Geschichtsmythen), Bukarest 1995; Miturile communsimului românesc (Die Mythen des rumänischen Kommunismus), Bukarest 1998.

 

(4) Junimea (Jugend) war eine Kulturgesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

 

(5) Junimea: implicaţii istoriografice. (Junimea: geschichtswissenschaftliche Implikationen) Iaşi 1976, De la istoria criticã la criticism. (Von der kritische Geschichte zum Kritizismus) Bukarest 1985; Istorie şi istorici in România interbelicã. (Geschichte und Geschichtswissenschaftler im Rumänien der Zwischenkriegszeit) Iaşi 1989; Discurs istoric şi tranziţie. În cãutarea unei paradigme. (Historischer Diskurs und Übergangzeit. Auf der Suche nach einem neuen Paradigma) Iaşi 1998.

 

(6) National Ideology under Socialism. Identity and Cultural Politics in Ceausescu‘s Romania, Berkeley 1991.

 

(7) Dieser Standpunkt wird im unmittelbaren Anschluss an „Geschichte und Mythos“ in Jocul cu trecutul. Istoria între adevăr şi ficţiune (Das Spiel mit der Vergangenheit. Die Geschichte zwischen Wahrheit und Fiktion). Bukarest 1998 noch weiter theoretisch ausgearbeitet.

Redaktion: Heiko Hänsel haenselh@zedat.fu-berlin.de

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