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Rezension 35

Rezension Nummer 35 vom 23.01.2006

 

Rolf Wörsdörfer: Krisenherd Adria 1915-1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum. Paderborn: Schöningh Verlag 2004, 629 Seiten, 70 Euro. ISBN 3-506-70144-4

 

Rezensiert von: Alexander Korb

 

Jürgen Kocka forderte 1999 bei einer Rede zum 50. Bestehen des Marburger Herder-Institutes, dass für Ostmitteleuropa mit seiner „engen Gemengelage vielfältig zusammenhängender Siedlungseinheiten, Ethnien, Nationalitäten und Kulturen (...) der Vergleich (...) unbedingt sofort durch Fragen nach der inneren Verflechtung der Vergleichseinheiten ergänzt werden muss“.(1) Dass die von Kocka angemahnte Verknüpfung von vergleichender Geschichte und Verflechtungsgeschichte für Ostmitteleuropa besonders ergiebig sein kann, zeigt in beispielhafter Weise Rolf Wörsdörfers Buch über die „Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum“, das aus seiner 2002 an der Technischen Universität Darmstadt eingereichten Habilitation hervorgegangen ist.

Wörsdörfer gelingt es, eine transnationale Kulturgeschichte des romanisch-germanisch-slawischen Grenzraumes vom Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg (1915) bis zum Abschluss des Auszuges der italienischen Bevölkerung aus Istrien (1955) zu schreiben. Der zeitliche Rahmen der Studie ist klug gewählt: Der Erste Weltkrieg bedeutete eine nationale Mobilisierung für die gesamte Region, durch die sich die romanischen, slawischen und deutschen Bewohner des Grenzraums oftmals auf unterschiedlichen Seiten der Kriegsfront wiederfanden, und in dessen Folge eine Grenze zwischen einem romanischen und einem slawischen Nationalstaat die nördliche Adriaregion durchzog. Das Jahr 1955 bedeutete das Ende eines wichtigen Kapitels der italienisch-jugoslawischen Verflechtungsgeschichte, nämlich das weitgehende Ende des Vorhandenseins einer italienischen Minderheit in Jugoslawien.

Wörsdörfer untersucht die Region anhand von Themen wie Migration, Mythen und kulturellem Austausch in einer pragmatisch gewählten transnationalen Perspektive. Ergänzt wird die italienisch-jugoslawische Verflechtungsgeschichte durch die Einbeziehung der deutsch-österreichischen Akteure im Grenzraum, was weniger die deutsche Minderheit im Karst als die staatlichen Akteure in Form der Nationalitätenpolitik der k.u.k. Monarchie und der deutschen Slowenienpolitik im Zweiten Weltkrieg umfasst.

Die überaus spannende Geschichte des von der deutschsprachigen Historiographie bisher vernachlässigten Nordufers der Adria zu erzählen, bildet einen zentralen Verdienst des Autors: die Mythisierung der blutigen Schlachten am Isonzo nach dem Ersten Weltkrieg, Feindschaft und Annäherung zwischen Italien und Jugoslawien zwischen den Kriegen, der faschistische Überfall auf das Nachbarland 1941, der Partisanenkrieg mit seinen verworrenen Fronten jenseits ethnischer Grenzen, der antikommunistische Foibe-Mythos, der die Morde von Kommunisten an ihren Gegnern und dem Verschwinden ihrer Körper in den einsamen Karst-Gebieten vereinnahmte, die Geschichte vieler geschichtspolitischer Inszenierungen und Auseinandersetzungen und zahlreicher, in Deutschland wenig bekannter Erinnerungsorte. Doch darüber hinaus ermöglicht Wörsdörfer durch seinen Ansatz, die „Konstruktion und Artikulation des Nationalen“ in den Blick zu nehmen, auch die Entwicklung eines Stückes der europäischen Ideengeschichte nachzuvollziehen.

Die Konstituierung der italienischen und jugoslawischen Nationalideologien (und ihrer Wandlungen), der Italianità und des Jugoslovenstvo, werden eingebunden in die Geschichte des Grenzraums, wo sie eng verschlungen waren und sich besonders intensiv manifestierten. Denn umstrittene Grenzregionen sind nicht nur Objekte von Irredentismus, sondern auch Identitätsstifter ersten Ranges für die Kerngebiete eines Landes, wie sich auch am ungarisch-rumänischen, am polnisch-litauischen und an zahlreichen weiteren Beispielen zeigen ließe. Wörsdörfers Blick auf „Konstruktion und Artikulation des Nationalen“ umfasst sowohl die Konstrukteure als auch die Rezipienten der Nationalideologien und ihren Manifestationen. Indem Wörsdörfer die Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Artikulation bei Ritualen, in Vereinen und im Alltag aufzeigt, entgeht er der Gefahr, eine Hierarchie zwischen beiden Polen, also zwischen nationalistischen „Planern“ und dem rezipierenden „Volk“ aufzubauen. Auch warnt Wörsdörfer vor einem essentialistischen Blick auf das Nationale und verweist auf zahlreiche Beispiele von Menschen, die zwischen slawischer und romanischer „Identität“ wechselten und die Grenzen, welche die exkludierende Seite des Nationalismus vorgab, perforierten.

Als Regionalgeschichte Julisch-Venetiens zwischen den Weltkriegen leistet das Buch weiterhin einen Beitrag zur politischen Kulturgeschichte des italienischen Faschismus. Indem Wörsdörfer die faschistischen Praxen bei der Anwendung und Inszenierung von Gewalt, den Heroismus und die Rituale des Gedenkens im Grenzland schildert, erschließt sich, warum der Faschismus seine Hochburgen in den nach dem Ersten Weltkrieg von Italien erworbenen Gebiete hatte. Änderte sich der Faschismus, änderte sich auch dessen Politik im Grenzland. Der koloniale Rassismus in Folge des Überfalls auf Äthiopien wirkte sich auch auf das Vorgehen des Mussolini-Regimes gegen die julischen Slawen aus. Rassistische prodeutsche Vertreter des Triester Faschismus gewannen an Gewicht und forderten die Aussiedlung der slawischen Minderheiten in die afrikanischen Kolonien oder nach Albanien. Die Italianità wurde von den Faschisten rassistisch im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft weiterentwickelt. In seiner rassistischen Gesellschaftspolitik überholte das faschistische Italien somit autoritäre Regime Mittelosteuropas wie Ungarn, Rumänien und Polen. Der verschärfte Grenzlandfaschismus seit Mitte der 1930er Jahre führte zur Zerschlagung des slawischen Genossenschaftswesens und zu „kulturellen Verwüstungen“ (S. 569) in der julischen Mark. Sowohl Repression als auch Wirtschaftskrise führten zu einem erneuten Anstieg der slawischen Auswanderung nach Jugoslawien, Westeuropa oder Übersee, nachdem zuvor schon die Pariser Verträge und die faschistische Machtübernahme Wellen der Emigration zehntausender julischer Slowenen und Kroaten ausgelöst hatten. Wörsdörfer legt die ökonomischen, sozialen, mentalen und kulturellen Folgen der Migrationsbewegungen und der Grenzverschiebungen dar und schreibt so auch einen Beitrag zur Migrationsgeschichte Europas nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.

In Jugoslawien angekommen, wurden die Emigranten aus Italien zur Partizipation in Exilvereinen und an der Exilpresse aufgefordert. Da die Auswanderer den jugoslawischen Anspruch auf Istrien und Dalmatien, die Erinnerung an diese Gebiete und somit das Jugoslovenstvo repräsentierten, zeigten sich die Behörden bei ihrer Eingliederung behilflich und versuchten, sie in vor allem ethnisch heterogenen Gebieten anzusiedeln, um deren „jugoslawischen“ Bevölkerungsanteil zu stärken. Dies begünstigte jedoch Spannungen mit der alteingesessenen Bevölkerung, so dass ein Bestandteil der Migrationserfahrung der aus Italien emigrierten Slawen war, als „Welsche“ oder als „Faschisten“ beschimpft zu werden. Nach Beginn der jugoslawischen Königsdiktatur entwickelte sich die behördliche Politik den Einwanderern gegenüber zunehmend paradox, da sie als potentielle Nationalisten und Kommunisten und somit als Unruhefaktor galten und ihnen letztlich die jugoslawischen Bürgerrechte vorenthalten blieben. Die meisten der julischen Slawen blieben so Fremde in ihrer neuen Heimat.

Anders als im Falle der julischen Slawen in den zwanziger und dreißiger Jahren, von denen sich nur eine Minderheit zur Emigration entschied, floh die große Mehrheit der italienischen Bewohner der bis 1945 zu Italien gehörigen Provinzen, nachdem diese Jugoslawien zugeschlagen wurden. Der Niedergang der Italianità in Istrien, Dalmatien und im Karst begann aber weit früher, spätestens mit der italienischen Kapitulation im September 1943. Vor allem in den zwanziger Jahren angesiedelte Italiener verließen die Grenzgebiete aus Furcht vor den Partisanen in Scharen. Nach 1945 traf vor allem die jugoslawische Wirtschaftspolitik (nicht nur) die italienische Minderheit hart. Manches erinnerte „an die Maßnahmen, die das faschistische Regime in den zwanziger Jahren“ (S. 531) ergriffen hatte. Gleichwohl war der Tito-Regierung nicht daran gelegen, alle Italiener aus Jugoslawien zu vertreiben. Doch Diskriminierung, Zukunftsängste, Repressalien im Bildungssektor und wirtschaftliche Not führten zur Auswanderung von etwa 250.000 Italienern vor allem aus Istrien und zu einem kleineren Gegen-Exodus von Slowenen aus dem Isonzotal aus nach Jugoslawien. Vornehmlich italienische geprägte Städte wie Capodistria (Koper), Pola (Pula), Albona (Labin) und Fiume (Rijeka) in Istrien wurden fast von ihrer gesamten romanischen Bevölkerung verlassen.

Wie in den 1930er Jahren auf jugoslawischer Seite, wurden die „Esuli“ genannten Zuwanderer für nationalistisch motivierte staatliche Siedlungsprojekte vereinnahmt, die den Zweck verfolgten, den romanischen Anteil in slowenischen Siedlungsgebieten zu stärken. Und wie im Zwischenkriegsjugoslawien wurden die Neuankömmlinge zu Objekten lokaler Diskriminierung. Das Jahr 1955 markierte das Ende der italienischen Lokalkultur in Istrien. Im italienischen Grenzgebiet hingegen konnten die slawischen Minderheiten ihre Kultur selbst über den Faschismus hinaus bewahren.

Die Antwort auf seine Frage, wovon die Italiener wegliefen (S. 524), bleibt Wörsdörfer letztlich schuldig. Die Tatsache, dass die italienischen Istrier vor allem in urbanen Zentren lebten und dass die internationale Diplomatie nur wenig tat, um den jeweiligen Minderheiten das Bleiben unter guten Bedingungen zu ermöglichen, erklärt die Abwanderung fast aller italienischsprachigen Bürger Jugoslawiens nur teilweise. Die Frage ist freilich nicht monokausal zu beantworten, und Wörsdörfer erhellt die Geschichte von Migration und Vertreibung für das Adriagebiet weit vielschichtiger, als es etwa ein „Zentrum gegen Vertreibung“ für das Ende der deutschen Siedlungen in Ostmitteleuropa nach 1945 leisten könnte. Dies verdankt das Buch dem Einsetzen im Ersten Weltkrieg und der Tatsache, dass die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg nicht eine bloße Vorgeschichte darstellen.

Wörsdörfers Buch ist ein Lesegenuss und sei hiermit aufs dringlichste empfohlen. Getrübt wird das Vergnügen nur dadurch, dass der Autor manchmal Ereignisse anreißt, die dem Leser und der Leserin ohne Spezialkunde nicht geläufig seien dürften. Obgleich der Autor einer narrativen Geschichtsschreibung das Wort redet, bleibt er schuldig, in gebündelter Form zu erzählen, was z. B. beim mehrfach erwähnten Brandanschlag italienischer Faschisten auf das Hotel Balkan in Triest geschah. Eine Zeittafel hätte die Einordnung der Ereignisse von 40 Jahren untersuchter Geschichte erleichtert. Leider unterbrach auch vielfaches Blättern und Suchen im Buch die Lektüre, denn es fehlt ein Kartenregister, oder, besser noch: ein gebündelter und übersichtlicher Kartenapparat, der durchaus auch Sprachkarten, geografische Karten, Übersichtskarten über beide behandelte Staaten sowie eine Karte mit den heutigen Grenzen hätte umfassen sollen.

 

(1) Kocka, Jürgen: Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 49 (2000), S. 159-174, hier: S. 174.

 

Rezensiert von Alexander Korb

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