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Rezension 27

Rezension Nummer 27 vom 07.03.2005

 

Anthony W. Marx: Faith in Nation – Exclusionary Origins of Nationalism. Oxford u.a.: Oxford University Press 2003. 258 S.; ISBN 0-19-515482-7, € 25,90.

 

Rezensiert von: Stefan Ihrig (Berlin)

 

Die Nationalismusdebatte der letzten beiden Jahrzehnte seit dem Erscheinen von Gellners Nations and Nationalism[1] war vor allem von Versuchen gekennzeichnet, die Nation als etwas Primordiales zu situieren, dessen Wurzeln zumindest in das Mittelalter zurückreichen.[2] Zur Zeit beschränkt sich die Debatte vor allem auf die Ausdifferenzierung dieser Versuche in eine primordialistische und eine ethno-symbolistische Richtung sowie in eine dritte, welche das kontinuierliche Bestehen der Nation seit dem Mittelalter betont (perennialists).[3]

Das vorliegende Buch des US-amerikanischen Politologen Anthony Marx[4] versucht, der Frage nach der Nation mit ganz anderen Akzenten nachzugehen und situiert sich zeitlich gewissermaßen zwischen den beiden Schulen der Primordialisten und der Modernisten. Während das Buch in seiner Tendenz ganz klar der modernistischen Schule angehört, stellt es einige grundlegenden Annahmen eben dieser in Frage. Marx untersucht die „vergessenen Anfänge“[5] des nation-building und des statebuilding – ohne allerdings beide Begriffe ineinander kollabieren zu lassen. In seinen sieben Kapiteln schickt sich dieses Werk an zu zeigen, wie die Nation als Integrationsfaktor entdeckt wurde als man sich im Zuge einer angestrebten Zentralisierung gezwungen sah, Mechanismen zu finden, welche die Massen an das Zentrum und seine Absichten banden. Ohne eine weite Loyalität wäre eine Zentralisierung der Macht nicht möglich gewesen. Der exklusive Nationalismus habe sich hier in einem Prozess der „trials and errors“ als Antwort heraus entwickelt.

Primär zweifelt der Autor die ihm zufolge überstilisierte Unterscheidung zwischen gutem, westlichen Nationalismus und bösem, östlichen Nationalismus an. Die Unterscheidung zwischen einem „guten Nationalismus“, der dem französischen Beispiel einer inklusiven Staatsnation und dem Staatsbürgerschaftskonzept des ius soli folgt, und einem „bösem Nationalismus“, der dem deutschen Beispiel des folgt und eine exklusive völkische Sicht der Nation propagiert, hat sich in vielen Analysen zur Nationalismusforschung etabliert.[6] Diese Sicht und die modernistische Schule der Nationalismusforschung im Allgemeinen fokussieren auf das späte 18. und das 19. Jahrhundert als Anfänge des Nationalismus. Anthony Marx will dieser Sicht eine Akzentverschiebung in der Analyse des Phänomens Nation entgegensetzen und analysiert auf einer komparativen, bisweilen essayistischen Ebene die Mechanismen von Inklusion und Exklusion in der Zeit bis zum 18. Jahrhundert. Er sieht in dieser Zeit einen Übergang von einer Machttaktik des divide et impera hin zur Schaffung eines nationalen, gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühles. Er beschreibt vor allem den politisch-funktionalen Aspekt der Nationskonzepte. Während er zwar nicht wie die Primordialisten die Nation im Mittelalter aufspüren will, besteht er darauf, dass sich im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit in Westeuropa die grundlegenden Muster herausbildeten, nach denen seither die Bevölkerung an die politische Macht gebunden und hinter verschieden nuancierten Wir-Begriffen versammelt wurde.

Er untersucht hier Spanien, England und Frankreich, die zwar im Detail verschiedene Wege zur Konsolidierung ihrer Macht gingen, doch die alle ähnliche Mechanismen benutzten. Seine These ist, dass in Gesellschaften, in denen andere „moderne“ Mechanismen (wie allgemeiner Wehrdienst, Schulpflicht, etc.) noch nicht existieren, religiöser Hass und Exklusion als Konsolidierungspraxis der zentralen Macht benutzt wurden. Er beschreibt hier die funktionale Konstruktion einer out-group, gegen die dann mit dem Ziel der Festigung einer in-group Politik betrieben wird. Das langfristig erhoffte Ergebnis, so Marx, sei ein gefestigtes Staatsvolk gewesen, dessen Loyalität dann zugunsten der Ziele der Krone eingesetzt werden konnte. Unmittelbar aber sollten Widerstände zum Zentralisierungsprojekt, die sich schnell zeigten, neutralisiert und in andere Richtungen kanalisiert werden. Er fasst seine Analyse wie folgt zusammen: „state-building requires nation-building“ (S. 73). Am Ende des Prozesses standen, laut Marx’ Analyse, noch keine gefestigten Nationen, aber gefestigte Zentralstaaten, welche wiederum den weiteren Aufstieg der Nationen förderten. Erst nach einer solchen Konsolidierung der zentralen Macht, so Marx, konnte eine Öffnung des nationalen Wir-Begriffs folgen.[7]

Diesen Prozess der Konsolidierung der zentralen Macht und der parallel verlaufenden Entwicklung und Festigung eines nationalen Wir-Begriffs, der in diesen Anfangszeiten primär gegen religiös definierte Andere (Hugenotten in Frankreich, Katholiken in England) betrieben wurde, beschreibt Marx überzeugend für die Beispiele England und Frankreich. Es gelingt ihm zu zeigen, wie dieser Prozess nicht einem großen Plan von oben folge, sondern wie sich einerseits die Konsolidierungs- und Exklusionsstrategien erst im Prozess selbst entwickelt und gegebenenfalls verändert werden, und wie andererseits gerade die instrumentelle Nationsbildung schnell aus der Kontrolle des Staates geraten kann. Obwohl Marx die Nationsbildung ausschließlich als ein Phänomen von oben sieht, behauptet er, dass diese nicht ganz vom Zentrum kontrolliert werden (kann und) soll, da sie sonst nicht hinreichend effektiv sei.[8] Beispiele für eine solche Verselbstständigung seien die Hinrichtung von Charles I. und besonders der sich in diesem Prozess entwickelnde nationale Vertretungsanspruch des englischen Parlaments gegen die Krone.

Spanien fungiert hier als der negative Sonderfall, bei dem zwar ähnliche Mechanismen, wie in den anderen beiden Ländern benutzt wurden, diese jedoch zu anderen Ergebnissen führten. Hier waren Marx zufolge schon zu früh im Nations- und Staatsbildungsprozess die „Anderen“ (vor allem die Juden) so vollkommen „ausgeschlossen“, dass sie aufgrund ihrer Vertreibung überhaupt nicht mehr als funktionales Anderes zu einer Zeit anwesend waren, als der zentralisierende Staat weitere Anknüpfungspunkte zur Erschaffung eines starken Gemeinsamkeitsgefühl benötigt hätte (S. 86). Das Resultat dieses schlechten Timings, so Marx, war, dass sich in Spanien die zentrale Macht nicht in einem Maße wie in England oder Frankreich konsolidieren konnte, was schließlich auf das Fehlen eines starken Nationsgefühls zurückzuführen sei.

Obwohl der Autor ausschließlich Westeuropa analysiert, hatte er bei der Konzeption dieses Buches ganz klar, wie er dem Leser auch öfters im Text explizit versichert, Osteuropa und besonders Südosteuropa im Blick gehabt. Was die hier diskutierten Mechanismen der Inklusion und Exklusion betrifft, bringt Marx in gewisser Weise Ost- und Südosteuropa in den europäischen Mainstream bzw. umgekehrt: Das Phänomen der Exklusion wird zu einem Wesenszug des Nationalismus und des Nationsbildungsprozess erhoben.[9] Wenn der Autor nun auch nicht behauptet, kontemporäre Versuche des exklusiven state- bzw. nation-building seien deshalb akzeptabler, so meint er, man müsse eher auf die Vergangenheit des Westens in diesem Zusammenhang hinweisen als auf einen angeblichen „Rückfall in die Barbarei“. Ein Problem dieser Analyse ist jedoch die in ihr mitschwingende Behauptung, dass diese Art von teilweise brutalster Exklusion und Konsolidierung notwendig war, um die nächsten Phasen von Aufklärung, Freiheit und Toleranz zu erreichen.

Marx’ Buch besitzt auf jeden Fall das Potential eine Debatte anzustoßen. Er lässt uns den Konsens der Nationalismusforschung hinterfragen. Es bleibt zu hoffen, dass sein Buch bei der zukünftigen Rezeption von beispielsweise solchen Werken wie Brubakers „Citizenship in Germany and France“, aber auch bei der Diskussion der Werke von Autoren der modernistischen Schule wie Anderson oder Hobsbawn mitbedacht wird. Bei Marx ist es weniger das Streben nach der politischen Erfüllung einer gemeinsamen Kultur, Sprache oder der Protonation, als das Bestreben des politischen (feudalen) Zentrums die eigene Macht zu konsolidieren, welches den entscheidenden Impetus in Richtung der modernen Nationen gegeben hat. Bei Marx bleibt zudem kein „guter Nationalismus“ mehr übrig. Seiner Analyse folgend, gibt es keine Variante des Nationalismus, die sich, wie in der gängigen Meinung über den so genannten inklusiven Nationalismus, über die Jahrhunderte ohne Intoleranz und Exklusion bewähren konnte. Er fordert mit diesem Buch insgesamt und oft auch explizit an vielen Stellen im Text zu einer neuen, umfassenden Sichtweise auf den „Nationalismus“ als ein Phänomen auf, das in grundlegender Weise auf Konflikt und Exklusion in seiner Entstehung fußt.

 

Anmerkungen:

[1] Gellner, Ernest: Nations and Nationalism. Oxford 1983.

[2] Ein markantes Beispiel hierfür ist sicherlich Hastings Position, dass es die englische Nation bereits im Mittelalter gab: Hastings, Adrian: The Construction of Nationhood. Ethnicity, Religion and Nationalism. Cambridge 1997.

[3] Smith, Anthony D.: Myths and Memories of the Nation. Oxford 1999; Smith, Anthony D.: The Nation in History – Historiographical Debates about Ethnicity and Nationalism. The Menahem Stern Jerusalem Lectures. Hanover 2000; Sonderheft von “Nations and Nationalism”: History and National Destiny - Ethnosymbolism and its Critics. Nations and Nationalism, 10:1/2 (2004).

[4] Anthony W. Marx ist Politikwissenschaftler and Rektor des Amherst College (MA/USA). 1998 erschien von ihm: „Making Race and Nation: A Comparison of the United States, South Africa and Brazil” (Cambridge).

[5] “Forgotten Beginnings” – Titel der Rezension von Marx’ Buch in der Washington Post, 8. Juli 2003.

[6] Grundlegend für diese Unterscheidung unter anderem Rogers Brubakers „Citizenship and Nationhood in France and Germany“. Cambridge (MA)/ London 1992.

[7] “Democracy required prior national unity, built most effectively on the basis of religious exclusion” (S. 197).

[8] "To be effective for state-building, nation-building cannot be fully controlled from above, for it will not then bind“ (S. 112).

[9]“If the West itself varied between exclusion and inclusion then we cannot definitely distinguish the East as ‘ethnic’ and the West as consistently ‘civic’” (S. 116).

 

Sefan Ihrig

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