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Rezension 26

Rezension Nummer 26 vom 07.03.2005

 

Klaus Roth (Hg.): Arbeit im Sozialismus – Arbeit im Postsozialismus. Erkundungen zum Arbeitsleben im östlichen Europa (= Freiburger Sozialanthropologische Studien, hg. v. Christian Giordano, Bd. 1). Münster u.a.: Lit-Verlag 2004. 440 S., ISBN 3-8258-7374-9, Euro 39,90.-

 

Rezensiert von: Ulf Brunnbauer (Wedding)

 

Ein herausragendes Merkmal der realsozialistischen Gesellschaften war die starke Betonung der Arbeit als wichtigstes Kriterium für gesellschaftliche Teilhabe und Staatsbürgerschaft. Die kommunistischen Parteien verstanden sich als die Vertreterinnen der "werktätigen" Klassen, die sich durch ihre gesellschaftlich nützliche Arbeit definierten. Die besondere Rolle der Arbeit sowohl in der Selbstrepräsentation als auch der Gesellschaftspolitik des Realsozialismus war aber nicht nur Ausdruck der marxistischen Grundüberzeugung, dass der Mensch durch Arbeit zum Menschen werde, sondern auch der funktionellen Bedeutung von Arbeit für die ehrgeizigen Modernisierungs- und Industrialisierungsbemühungen. Mit dem Ende des Realsozialismus verlor Arbeit zwar nicht ihre ökonomische Funktion, aber ihre ideologische, da die postsozialistischen Regime neue Kriterien der Staatsbürgerschaft propagierten. Die einst bei allen möglichen Anlässen als Verkörperung des "Neuen Menschen" hoch gepriesenen Industriearbeiter verließen nun die öffentliche Wahrnehmung – sofern sie nicht auch physisch verschwanden, da viele Industriebetriebe zusperren mussten.

Angesichts diese dramatischen Wandels der Bedeutung von Arbeit kommt das hier besprochene Buch zur rechten Zeit, versucht es ja sowohl Einblicke in die Arbeitswelt während des Sozialismus als auch nach dessen Ende zu geben. Der umfangreiche Sammelband (26 Beiträge) ist Ergebnis einer Tagung, die im Jahr 2002 in München im Rahmen des bayrischen Forschungsverbundes FOROST stattfand, der unter der Ägide von Klaus Roth und in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschafterinnen und Wissenschafter in Ost- und Südosteuropa lebensweltliche Aspekte des Realsozialismus sowie der postsozialistischen Transformation untersucht. Der Großteil der Autorinnen und Autoren arbeitet an ethnologischen und ethnografischen Instituten, wie dem einleitenden Beitrag von Klaus Roth zu entnehmen ist (leider fehlt eine AutorInnenbeschreibung am Ende des Bandes). Der geografische Raum, den der Sammelband umfasst, ist umfangreich: Acht Beiträge behandeln Bulgarien, sieben die Sowjetunion oder einen ihrer Nachfolgestaaten, fünf die Tschechoslowakei bzw. die tschechische oder slowakische Republik, drei Polen und zwei thematisieren den Raum des ehemaligen Jugoslawien. Durch diese breite Streuung ist garantiert, dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Sozialismen ebenso wie der Wege in den Kapitalismus berücksichtigt wird.(1)

Der Umfang des Bandes und die große Anzahl der Beiträge macht es unmöglich, in einer Rezension auf alle Kapitel und Fragestellungen in dem Maße, in dem sie es verdienen, einzugehen. Ich werde mich daher auf zentrale Themen beschränken, die unter den vom Herausgeber hervor gehobenen Fragestellungen der "kulturellen Ordnung der sozialistischen Arbeitswelt" sowie der Prägung der Erwerbstätigkeit durch die "alltägliche politische, rechtliche, ökonomische und gesellschaftliche Praxis des ‚realen Sozialismus‘" subsumiert werden können (14f.). Grundsätzlich ist zu betonen, dass es den meisten Autorinnen und Autoren bestens gelingt, anhand ihrer Fallstudien sehr detaillierte und eindrückliche Ethnografien konkreter Arbeitswelten zu geben. Sie lassen die real- und postsozialistische Realitäten verstehbar machen und fördern wertvolles Material für vergleichende Studien zutage.

Ein wichtiges Thema sind die Strategien der kommunistischen Macht, Arbeitskräfte für ihre Ziele zu mobilisieren. Darüber schreibt unter anderem die bulgarische Ethnologin Radost Ivanova in ihrem Beitrag über die Jugendbrigadenbewegung in Bulgarien Ende der 1940er, an der Hunderttausende junge Menschen teilnahmen und die vor allem der Errichtung wichtiger Infrastrukturmaßnahmen sowie der neuen Stadt Dimitrovgrad diente. Die Autorin, selbst Teilnehmerin an einer Jugendbrigade, macht deutlich, dass die Jugendbrigaden nicht nur eine ökonomische Funktion hatten, sondern auch als Schule des Sozialismus dienen sollten. Damit eröffnet sie ein Thema, das auch von anderen Beiträgen angesprochen wird: Arbeit war im Sozialismus überdeterminiert, da ihr ökonomische, soziale und kulturelle Funktionen zugedacht wurden. Sie war, wie Peter Niedermüller in seinen Überlegungen über Arbeit, Identität und Klasse betont, als "kulturelles System" ein zentraler Bestandteil der "Normalbiographie" im Sozialismus (29f.).

Die enorme Bedeutung von Arbeit für die Lebenswelt der Menschen im Sozialismus macht auch der Beitrag der bulgarischen Ethnologin Milena Benovska-Săbkova deutlich. Aufgrund von Interviews mit Beschäftigten in zwei Firmen für industrielles Design kommt sie zum Schluss, dass die primäre Arbeitsgruppe ein wesentlicher Ort für die Formierung von sozialen Beziehungen war, die über die Arbeit hinaus reichten. Das kleine Arbeitsteam fungierte als "befreundete" Koalition und als die primäre Basis der Soziabilität (118). Arbeit konnte aber nicht nur in einem positiven Sinne zum Zentrum der Identität und Vergesellschaftung der Bürgerinnen und Bürger des Sozialismus werden, sondern wurde bisweilen auch zur Degradierung von ideologisch oder politisch missliebigen Personengruppen verwendet, wie Magdaléna Paríková und Marketa Spiritova am Beispiel der Tschechoslowakei zeigen. Paríková diskutiert die Deklassierung der ehemaligen "bürgerlichen" Schichten in den frühen Jahren des tschechoslowakischen Kommunismus, als die bürgerliche Kultur der urbanen Zentren durch neue Arbeiter vom Land transformiert werde sollte und Tausende Angehörige der ehemaligen Elite in Dörfer umgesiedelt wurden (50f.). Spiritova schildert, wie im Rahmen der "Normalisierung" nach der Niederschlagung des Prager Frühlings zahlreiche Intellektuelle entlassen wurden und häufig einfache manuelle Arbeit annehmen mussten. Allerdings gelang es dann vielen dieser Intellektuellen – unter anderem durch die Nutzung ihrer sozialen Netzwerke und Dank der Solidarität der Arbeiter – sich an ihren neuen Arbeitsplätzen gewisse Freiräume zu schaffen, damit sie jenen Beschäftigungen nachgehen konnten, für die sie ausgebildet waren, oder sich wenigstens Nebenverdienstmöglichkeiten schufen (340).

Dieses letzte Beispiel fügt sich in ein weiteres zentrales Thema ein, das in einigen Beiträgen behandelt wird: die Unfähigkeit sozialistischer Regime, trotz ihres repressiven Charakters, die Arbeitsbeziehungen nach den eigenen Vorstellungen zu formen. Dieses Problem wurde ja für die Sowjetunion und ihre umfangreichen Versuche, die Arbeit "wissenschaftlich" zu organisieren, bereits mehrfach untersucht. Bedauerlicherweise nimmt kein Beitrag auf diese umfangreiche Literatur über die Arbeitsbeziehungen in der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg Bezug, obwohl die sowjetischen Versuche Arbeit zu mobilisieren und effizient zu organisieren, denjenigen in den Volksdemokratien nach dem Zweiten Weltkrieg Pate standen. Von diesem Manko abgesehen, zeigen etwa die ausgezeichneten Beiträge von Peter Heumos und Petr Lozoviuk über den "sozialistischen Produktivismus" in der ČSSR bzw. die "sozialistische Musterstadt" Žd`ár in der Tschechoslowakei, wie schwer sich die Parteiführung tat, die Realität der Arbeitsbeziehungen mit ihren Vorstellungen in Einklang zu bringen. Auf den bulgarischen landwirtschaftlichen Kollektivbetrieben war es im Übrigen nicht viel anders, wie Doroteja Dobreva und Gabriela Wolf deutlich machen.

Der Beitrag von Peter Heumos ist auch deshalb besonders hervorhebenswert, weil er in das Herz der sozialistischen Arbeitsbeziehungen zielt, nämlich die Industrie. In seiner vor allem auf Archivdokumente, wie Gewerkschaftsberichte, gestützten Untersuchung zeigt er, wie die Versuche der tschechoslowakischen Kommunisten, durch die Einführung der Stachanovbewegung und der Stoßarbeit die Arbeiter zu Mehrarbeit zu bringen, letztlich am Widerstand vor allem der etablierten Arbeiter scheiterten, die darin einen Angriff auf ihr Verständnis von Arbeit sahen. Die Arbeiter ließen sich von den Gewerkschaften nicht in deren Kampf für mehr Arbeitsdisziplin einspannen und die Partei fand letztlich keine Gruppe unter den Arbeitern, die als Trägerin ihrer arbeitspolitischen Initiativen zur Verfügung gestanden hätte (215f.). Das Ende dieser Mobilisierungsversuche war daher nicht nur der Entstalinisierung nach 1953 geschuldet, sondern auch dem hinhaltenden und manchmal offenen Widerstand einer Arbeiterschaft, die bereits vor der kommunistischen Machtergreifung hochgradig organisiert und klassenbewusst war. Hier würde sich ein Vergleich mit jenen Ländern anbieten, in denen es vor der kommunistischen Machtübernahme nur eine rudimentäre Arbeiterschaft gegeben hat. Waren vielleicht Arbeiter mit bäuerlichem Hintergrund eher für Schockarbeit mit ihrem unregelmäßigem Arbeitsrhythmus zu bewegen? Jedenfalls macht die Analyse von Heumos klar, dass die ideologische Bedeutung der Arbeit und die ewige Knappheit an Arbeitskräften, die sozialistische Planökonomien auszeichnete, den Arbeitern auf innerbetrieblicher Ebene relativ viel Verhandlungsmacht gab. Die weitverbreitete informelle Ökonomie ebenso wie die laxe Arbeitsdisziplin waren Resultat dieser volks- und betriebswirtschaftlichen Konstanten (und weniger der kulturellen Traditionen).(2) Diese ökonomischen Grundlagen bleiben aber in den meisten Beiträgen etwas unterbelichtet.

Einige Beiträge machen deutlich, dass nicht alle arbeitspolitischen Initiativen der Partei Schall und Rauch waren. Einerseits zeigt der schon erwähnte Beitrag Benovska-Săbkovas, dass Arbeit ganz im Sinne der kommunistischen Ideologie zum Zentrum sozialer Identitäten und sozialer Beziehungen wurde. Benovska-Săbkova betont die Freundschaft am Arbeitsplatz als wichtigen Mechanismen für die Herstellung enger sozialer Kontakte (124); interessant wäre gewesen, auch über die Omnipräsenz der Betriebe im Alltagsleben der Menschen als möglicher Grund für die große Bedeutung der sozialen Beziehungen zwischen Kolleginnen bzw. Kollegen zu lesen – schließlich regulierten sozialistische Firmen wesentliche Aspekte des Lebens und der Soziabilität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von der Kinderbetreuung über den Platz im betrieblichen Urlaubsheim bis hin zur Freizeitgestaltung. Andererseits waren auch Initiativen zur Hebung des Arbeitseinsatzes bisweilen Erfolg gekrönt, wenn sie mit materiellen Vergünstigungen verbunden waren. Indrek Jääts macht zum Beispiel in seiner – mitunter allzu – minutiösen Beschreibung der Arbeitsvorgänge in ausgewählten estnischen Kolchosen deutlich, dass eine kompetente Leitung der Kolchose zu Erfolgen im "sozialistischen Wettbewerb" und damit zu höheren Einkommen der Mitglieder der Kolchosen führen konnte. Solche Kolchosen zogen Arbeitskräfte an, während andere mit einem Schwund an Mitgliedern zu kämpfen hatten (91–108). Dass materielle Stimuli tatsächlich zur Erhöhung des Arbeitseinsatzes führten, weist auch Monika Golonka-Czajkowska in ihrer Analyse der Arbeitsbeziehungen in Nowa Huta, der sozialistischen Musterstadt vor den Toren Krakaus, nach (244). Allerdings berücksichtigt die Autorin nicht die Untersuchung von Bolesław Januz` über die sozialen Realitäten in Nowa Huta, die stark von den Vorstellungen der Partei abwichen, aber wesentliche Merkmale der polnischen Arbeiterklasse im Sozialismus repräsentieren (die Autorin zitiert diesen Aufsatz nicht einmal).(3)

Schließlich behandeln einige Beiträge die postsozialistische Arbeitswelt, wobei einerseits die Kontinuitäten mit dem Sozialismus betont werden und andererseits die Tatsache, dass die neuen wirtschaftlichen Beziehungen sowohl auf gesamtgesellschaftlicher als auch innerbetrieblicher Ebene nicht den Blaupausen der Theoretiker der Transition zur Marktwirtschaft entsprechen. Den große Einfluss der sowjetischen "Verhaltensnormen und Alltagsgewohnheiten auf die heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen" macht der Soziologe Vjačeslav Popov in seiner überzeugenden Analyse von Arbeitsbeziehungen in Russland deutlich (168). Ein anderer Beitrag (von Alexander Tschipurenko und Tatjana Obydennova) über Russland wiederum zeigt, dass russische Kleinunternehmen sehr stark durch paternalistische Muster geprägt sind und bei der Rekrutierung von Arbeitskräften nicht dem anonymen Arbeitsmarkt, sondern den eigenen sozialen Netzwerken vertrauen (371, 375). Die Eingebettetheit der neuen kapitalistischen Beziehungen in lokale Strukturen zeigen auch Christian Giordano und Dobrinka Kostova in ihrer Analyse von neuen landwirtschaftlichen Betrieben in der Region Dobrudscha in Bulgarien. Viele der neuen landwirtschaftlichen Kapitalisten rekrutieren sich aus der ehemaligen Funktionärselite der Kollektivbetriebe. Wichtig ist auch ihr Hinweis, dass die postsozialistische ursprüngliche Akkumulation wie im Kapitalismus üblich häufig außerhalb der gesetzlichen Normen geschieht (394).

Derartige Versuche, die Gemeinsamkeiten kapitalistischer Logik aufzuspüren, anstelle kulturelle Besonderheiten zu suchen, wären auch in anderen Beiträgen hilfreich gewesen. Darunter leidet beispielsweise der ansonsten höchst aufschlussreiche und auch kurzweilige Beitrag von Ivanka Petrova, der eine ausgezeichnete Ethnografie der Arbeitsbeziehungen in einem internationalen Direktvermarktungsunternehmen von Kosmetika in Bulgarien zu verdanken ist. Sie macht die Verkaufsstrategien dieser Firma ebenso deutlich wie ihre Versuche, die Verkäufer in eine umfassende Unternehmenskultur einzubinden. Viele Verkäufer in Bulgarien internalisieren diese Ideologie und sehen sich nicht mehr als Abhängige, sondern als Partner, wobei sie ihre Tätigkeit für dieses Unternehmen als Merkmal einer europäischen Identität interpretieren, was sie zum Beispiel durch besondere Pünktlichkeit zum Ausdruck bringen wollen (426). Ihre Kunden suchen sie vor allem im Kreise der Verwandten und Bekannten – nutzen also das sich aus engen sozialen Beziehungen ergebende Gefühl der Verpflichtung. Warum dies und die große Solidarität unter den Mitarbeitern sowie ihre sehr personalisierte Loyalität zur Firma allerdings "spezifisch bulgarisch" sein soll, mag nicht ganz einleuchten, scheint es sich doch dabei um die normalen Unternehmensstrategien von Direktvermarktern zu handeln. Man denke nur an die berühmt-berüchtigten Tupperware-Parties, zu denen ebenfalls gute Bekannte, Verwandte, Arbeitskolleginnen usw. eingeladen werden, die sich ihrer Gastgeberin gegenüber verpflichtet fühlen, etwas zu kaufen und die nächste Verkaufsparty auszurichten.

Auch in Tanja Chavdarovas Untersuchung der sozialen Einstellungen von Kleinunternehmern in Skopje und Sofia steht der Einfluss kultureller Faktoren im Zentrum der Analyse. Die Autorin geht der spannenden Frage nach, ob Kleinunternehmer in Bulgarien und Makedonien eher individualistisch oder kollektivistisch orientiert sind. Einerseits gebührt der Autorin das Verdienst, eine methodologisch sehr aufwändige Studie angestellt zu haben, die sie auch in einen internationalen Kontext stellt; außerdem vergleicht sie zwei Gesellschaften, die sich nach dem Ende des Sozialismus doch sehr unterschiedlich entwickelt haben. Andererseits ist die Validität der Daten nicht immer sehr überzeugend. Eine fünfstufige Skala für das Ausmaß von "Gemeinschaftsgeist und sozialer Solidarität" versus "Einsamkeit und Freiheit" wirkt z.B. reichlich willkürlich (409). Insbesondere bleibt unklar, warum die Autorin zwar auf die historische Erfahrung als wichtige Erklärungsvariable verweist, dabei ihre Aufmerksamkeit aber vor allem auf die vorsozialistische Zeit richtet. Kämen nicht der Arbeiterselbstverwaltung und der gänzlich anderen Unternehmensstrukturen im ehemaligen Jugoslawien mehr Erklärungskraft für die heutigen Einstellungen makedonischer Kleinunternehmer zu als den Sozialformen während der osmanischen Zeit (402)? Ihre Schlussfolgerung, dass sich bereits im späten Sozialismus eine graduelle Stärkung individualistischer Werthaltungen zeigte, ist aber wichtig.

Zu guter Letzt verdienen jene Beiträge eine besondere Betonung, welche die methodologischen Probleme der Rekonstruktion vergangenen "Realitäten" durch Interviews thematisieren (während andere Autorinnen und Autoren die Interpretationen ihrer Gesprächspartner weitgehend übernehmen). Petăr Petrov geht etwa der Frage nach, warum viele seiner Interviewpartner die zahlreichen Arbeitsfeste während des Sozialismus, die ihn interessieren, nicht von sich aus erwähnen, was er als Verdrängungsmechanismus interpretiert (162). Petr Lozoviuk zeigt, dass in Erinnerungen die zahlreichen Konflikte am Arbeitsplatz ausgespart bleiben (226). Ene Kõressar analysiert anhand von autobiographischen Erzählungen von Lehrerinnen in der estnischen SSR, welche Konzepte eines "ordentlichen" Arbeitslebens den Biographien zugrunde liegen. Sie fragt, was erinnert wird und weist auf die Schwierigkeiten der biographischen Methode hin, da in Autobiographien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit Erfahrung, Erinnerung und Erwartung miteinander verbunden werden (292). Ihr gelingt zu zeigen, wie kollektive Erfahrungen das Wiedererzählen des Lebens strukturieren, wobei die Menschen eine gänzlich negative Interpretation ihres eigenen Lebens vermeiden wollen (307). Predrag Marković stellt wiederum die zentrale Frage, inwieweit die Erinnerungen an den Sozialismus von den Erfahrungen der postsozialistischen Krise und damit einer gewissen Nostalgie geprägt sind. Die Tatsache, dass in den serbischen Erinnerungen an die sozialistische Arbeitswelt, die er analysiert, vor allem die soziale Inklusion positiv herausgestrichen wird, wird nur vor dem Hintergrund der in Serbien besonders tiefgehenden Transformationskrise mit ihrer sozialen Atomisierung und Degradierung verständlich (268).

Schließlich sollen neben den vielen interessanten und gut argumentierten Kapiteln auch zwei Beiträge erwähnt werden, die deutlich abfallen: Leszek Dzięgel will die Arbeitswelt polnischer Gastarbeiter in der arabischen Welt schildern, macht aber weder Zeitpunkt des Geschehens noch Anzahl der betroffenen Arbeiter klar und offenbart auch nicht, auf welches empirisches Material er sich stützt. Aber wir erfahren dafür, dass in Bagdad "local shopkeepers recognised their Polish customers immediately" (329) und dass Griechenland eine kommunistische Machtergreifung nur aufgrund des Konflikts zwischen Tito und Markos erspart blieb (325). Der zweite enttäuschende Aufsatz stammt von Larissa Lissjutkina über "Weiblichkeitsprojekte in der Arbeitswelt Rußlands". Ihr Text zeichnet sich nicht nur durch einen sehr impressionistischen Stil, sondern auch durch faktische Fehler und die Nichtberücksichtigung der mittlerweile sehr breiten Literatur über die Situation der Frauen in der Sowjetunion – in Bezug auf die Arbeitswelt von besonderer Bedeutung: Wendy Goldman(4) – aus. Dadurch erleiden ihre teilweise interessanten Gedanken letztlich Schiffbruch. So ist ihre zentrale Feststellung, dass "der in der sowjetischen Gesellschaft existierende Begriff der Frauenemanzipation von Anfang an auf der Doppelbelastung der Frauen [aufbaute]" (185), nicht zutreffend, da in der ursprünglichen leninistischen Konzeption die Gesellschaft die Hausarbeit sowie die Kinderbetreuung übernehmen sollte, um die Frauen für die Lohnarbeit zu befreien. Leider ist gerade ihr Beitrag der einzige, der explizit die Gender-Dimension von Arbeit und die Perspektive der Frauen behandelt – ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Ein derart vielfältiges Buch zu resümieren, ist eine schwierige Aufgabe. In jedem Fall gelingt es den einzelnen Beiträgen, unterschiedliche Aspekte sozialistischer und postsozialistischer Arbeitswelt mit einer großen Dichte zu beschreiben, wobei sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den behandelten Gesellschaften deutlich werden. Die konkreten Fallbeispiele sind in der Regel gut begründet und breit gestreut, so dass Einblicke in unterschiedliche soziale Milieus und Perioden ermöglicht werden. In einigen Beiträgen finden sich wichtige Analysen, die einerseits die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Arbeit im (Post-)Sozialismus reflektieren und andererseits die "innere soziokulturelle Logik" des Realsozialismus deutlich machen. Sie lösen damit ein, was Peter Niedermüller als möglichen Beitrag ethnologischer Zugänge zur Erweiterung unseres Verständnisses der sozialistischen Gesellschaften heraus streicht (24). Der Sammelband stellt somit eine wichtige Ergänzung und Aktualisierung von soziologisch oder politisch-ökonomisch orientierten Studien über Arbeitsbeziehungen im (Post-)Sozialismus dar, die bereits die Heterogenität der sozialistischen Arbeitswelt und die unterschiedlichen Handlungsspielräume der Werktätigen deutlich gemacht haben.(5) Angesichts des ausgesprochenen Pioniercharakters des Vorhabens – Arbeit stellt in den meisten der untersuchten Gesellschaften sowie für die lokalen Ethnologien/Ethnografien eine Forschungsdesideratum dar – sind die Auslassungen ebenso verzeihlich wie die eine oder andere begriffliche oder faktische Ungenauigkeit. Das Buch wird in jedem Fall eine unumgängliche Lektüre für alle diejenigen sein, die sich mit Fragen der Arbeit aber auch des Alltagslebens in Ost- und Südosteuropa beschäftigen.

 

Fußnoten:

(1) Die DDR wird nicht behandelt – allerdings erfuhr die Arbeitswelt in ihr bereits eine voluminöse Darstellung: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter in der SBZ – DDR (Essen 1999).

(2) Charles Sabel/David Stark: Planing, Politics, and Shop-Floor Power: Hidden Forms of Bargaining in Soviet-Imposed State-Socialist Societies. In: Politics and Society, 11:4 (1982), 439–476.

(3) Boleslaw Januz: Labor’s Paradise: Family, Work, and Home in Nowa Huta, Poland, 1950–1960. In: East European Quarterly, 23:4 (2000), 453–474.

(4) Wendy Z. Goldman: Women at the Gates. Gender and Industry in Stalin‘s Russia (Cambridge 2002).

(5) Z.B. Michael Burawoy/János Lukács: The Radiant Past. Ideology and Reality in Hungary’s Road to Capitalism (Chicago/London 1992); Paul T. Christensen: Russia‘s Workers in Transition. Labor, Management, and the State under Gorbachev and Yeltsin (DeKalb, IL, 1999).

 

Rezensiert von Ulf Brunnbauer

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