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Rezension 23

Rezension Nummer 23 vom 24.01.2005

 

Skrivene manjine na Balkanu [Versteckte Minderheiten auf dem Balkan], hg. von Tanja Petrović, Christian Promitzer und Biljana Sikimić, Beograd 2004. 299 S.; ISBN 86-7179-038-X.

 

Rezensiert von: Klaus Buchenau (Berlin)

 

Im Jahr 2001 setzten sich an der Universität Graz einige junge Balkanforscher zusammen und prägten einen neuen Terminus – „versteckte Minderheiten“. Mit dem Arbeitsbegriff sollten ethnische Gruppen erfasst werden, die sich im etablierten Schema von Nationen und nationalen Minderheiten nicht wiederfinden, weil sie klein sind, keinen geregelten Status, keine eigene Elite, eventuell keine eigene Schriftsprache und oft kein eindeutig definiertes „Mutterland“ haben. Im September 2003 veranstalteten die Grazer gemeinsam mit dem Balkanologischen Institut der Serbischen Akademie der Wissenschaften eine Konferenz zu dem Thema. Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse.

Ob der Begriff „versteckte Minderheiten“ plausibel ist, zeigt sich vor allem in der praktischen Anwendung. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis macht zunächst neugierig – hier geht es um Gruppen, von denen man vielleicht gehört hat, über die man aber doch nur wenig weiß: Slawen in Albanien und Griechenland; Makedonen in Bulgarien und Serbien; die bulgarisch-serbisch-makedonische Grenzbevölkerung der Schopen, die es aber auch nach Kosovo verschlagen hat; Bulgaren in Serbien; Deutsche in Slowenien (Gottscheer) und in der Vojvodina („Schwaben“); Meglenoromunen im Grenzgebiet zwischen Griechenland und Makedonien; Zinzaren in Serbien; Griechen in Belgrad; Slawen in der Gegend von Caraşova (rumänisches Banat); Bunjevzen und Kajkaver in der Vojvodina; alteingesessene Serben in der slowenischen Bela Krajina; Katholiken (Csangos) im rumänischen Teil der Moldau; slawischsprechende Muslime, orthodoxe Roma und Tscherkessen in Kosovo; bulgarische Gärtner in Österreich. Allein diese Liste zeigt, dass ein Sammelbegriff nützlich ist, damit derartige Gruppen erfasst und auch verglichen werden können. Für Südosteuropa ist das besonders wichtig. Denn hier sind einerseits infolge von Wanderungen, Religionswechseln und später Modernisierung besonders viele derartige Gruppen entstanden und erhalten geblieben; die Nationalstaaten haben andererseits dieses Erbe oft nicht anerkannt und etliche Minderheiten in ein „Versteck“ gezwungen.

Wenn also Minderheiten versteckt sind, legt das zwei entgegengesetzte Schlüsse nahe: Entweder sie werden versteckt, oder sie verstecken sich selbst. Christian Promitzer betont in seiner theoretischen Einführung diese Zweideutigkeit: Es gäbe unter den versteckten Minderheiten solche, die keinen Minderheitenstatus anstreben, und solche, denen er trotz gegenteiliger Bestrebungen verweigert werde (13). Die inhaltliche Unschärfe des Begriffs ist durchaus ein Vorteil, denn sie lässt uns erkennen, dass die Gruppen in zwei Richtungen auseinanderstreben – zur Etablierung oder zum Verschwinden. Einige Studien legen gar den Schluss nahe, dass beide Prozesse gleichzeitig ablaufen können.

Durch seine Polarität hat der Begriff Forscher zusammengebracht, die sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Wir finden einerseits national orientierte Autoren, die mit ihrer Arbeit offensichtlich dazu beitragen wollen, versteckte Minderheiten in offene zu verwandeln. Hier fallen die makedonischen Kolleginnen Gordana Aleksova (Makedonier in Albanien) und mehr noch Stojka Bojkovska (Makedonier in Griechenland und Bulgarien) auf, aber auch der rumänische Slawist Mihai Radan. Er bedauert, dass die Slawen im rumänischen Caraşova ihre „wahre“ serbische Identität vergessen hätten, und macht dafür deren katholische Konfession „verantwortlich“. In ähnlicher Weise sorgt sich der siebenbürgisch-ungarische Historiker Ferenc Csortan um die Csangos, d.h. um das versteckte Ungarntum der Katholiken in der Moldau. Nicht, dass der nationale Aspekt bei den versteckten Minderheiten grundsätzlich fehl am Platz wäre – aber durch die Verengung auf diese Frage entsteht der Eindruck, es gäbe sonst keine wichtigen Themen.

Andere Autoren nehmen dagegen das Phänomen zum Anlass für Mikrostudien, die vom nationalen Paradigma wegführen. Manchmal wird hier die Fixierung des Ethnologen oder Dialektologen auf den eigenen „Stamm“ spürbar; für den Außenstehenden wird also nicht immer klar, warum man sich überhaupt mit dem einen oder anderen Grüppchen beschäftigen muss. Es gibt aber auch bemerkenswerte Momente, wie den Text der Belgrader Ethnologin Sanja Zlatanović über die Serben im südöstlichen Kosovo. Die Feldforschung, die Zlatanović im Jahr 2003 unter geflüchteten Serben und in einer serbischen Enklave durchführte, zeigt nämlich, dass die Kosovoserben nicht als Block verstanden werden dürfen, der den Albanern monolithisch gegenüberstand. Stattdessen ging seit der serbischen Re-Kolonisierung ab 1912 bzw. 1918 ein Riss durch die „nationale Gemeinschaft“. Die serbischen Altsiedler blickten skeptisch auf die Kolonisten, die vor allem aus dem Gebiet um Vranje in Südostserbien kamen, und belegten sie wie alle anderen Neusiedler mit der pejorativen Bezeichnung šop (Schope). Beide Seiten blieben bis in die sozialistischen Jahrzehnte hinein endogam, pflegten deftige Vorurteile über die jeweils anderen und hatten unterschiedliche Beziehungen zu den Albanern. Unter den Flüchtlingen der 1980er und 1990er Jahre waren die Kolonisten, die im Gegensatz zu den Altsiedlern das Albanische nicht erlernten, stark vertreten.

Interessant sind auch einige linguistisch orientierte Arbeiten – manche Dialektologen haben hier die Nostalgie, die Verliebtheit in die Sprache der Alten fallen gelassen und reden jetzt so, dass man ihnen zuhören muss. Christian Voss bürstet unser Denken gegen den Strich, indem er zu den Slawophonen in Nordgriechenland feststellt: Sprachunterdrückung beschleunigt nicht unbedingt den Sprachtod, denn auch die Loyalität der Sprecher und das Sprachprestige sind entscheidende Faktoren. Die mit ca. 200.000 Sprechern wohl größte versteckte Minderheit Europas sei zwar offiziell nicht anerkannt, aber dennoch weniger bedroht als die Sorben, die im Vergleich zu den griechischen Slawophonen viel haben: Minderheitenrechte, kodifizierte Schriftsprache, Medien ... Durch die staatliche Unterdrückung sei das Slawische ein beliebter subkultureller Code geworden, der Gruppensolidarität herstelle, vor allem unter Männern (54f).

Tanja Petrović stellt diesen Aspekt, also die Haltung der Sprecher zu ihrer Sprache, in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung über die Serben in der slowenischen Bela Krajina. Im 16. Jahrhundert wurden hier orthodoxe Wehrbauern aus der Herzegowina angesiedelt. Vier Dorfgemeinschaften haben sich seitdem, fast wie Asterix und seine Gallier, standhaft gegen die Assimilation gewehrt. Seit dem Zweiten Weltkrieg aber bröckelt die Abwehr. Die Jugend kann heute nur noch slowenisch und selbst die Alten sind von einem Zwiespalt erfasst. Über ihr Serbisch schaffen sie ein Wir-Gefühl, außerdem erinnert sie die Sprache an bessere, moralischere Zeiten. Aber sie empfinden ihr Idiom mittlerweile als verschmutzt, als falsches Serbisch, und sie bewundern die „Reinheit“ des Slowenischen, sehen in dieser Sprache ein Symbol des Fortschritts. Bei ihrer Darstellung schaut Petrović weit über ihr slowenisches Tal hinaus, indem sie vergleicht, etwa mit kroatischen Auswanderern in den USA oder mit den Arvaniten in Griechenland.

Bemerkenswert sind auch die Erkenntnisse Marija Vučkovićs über die kajkavischen Kroaten im Banat. Mehr noch als die Kosovoserben, zerfallen die vojvodinischen Kroaten bei genauerem Hinsehen in Untergruppen, etwa in die štokavisch-ikavisch sprechenden Bunjevzen in der Bačka, in die kleine Gruppe der Kajkavisch-Sprecher im östlich davon gelegenen Banat, oder in Einwanderer aus neuerer, jugoslawischer Zeit. Vučković fördert durch ihre Feldforschung zutage, wie das Kajkavische in den Familien weitergegeben wird – es sind die Frauen, die es als Haussprache pflegen, wogegen die Männer aufgrund ihrer häufigen Außenkontakte zum Serbischen tendieren. Gefahr droht dem Kajkavischen daher vor allem durch Verstädterung, Mischehen und durch die Aufgabe traditioneller Geschlechterrollen.

Bei „versteckten Minderheiten“, so zeigen die obigen Beispiele, geht es in erster Linie um alteingesessene ländliche Gemeinschaften, die ihre Eigenheiten solange konservieren können, bis ihnen die Moderne oder der Nationalstaat das Wasser abgraben. Die Herausgeber haben sich aber nicht auf diese Engführung eingelassen und auch solche Minderheiten einbezogen, die traditionell im städtischen Milieu beheimatet sind. Das dürfte sich langfristig als kluge Entscheidung erweisen, denn hier ergeben sich wichtige Vergleichsperspektiven; eventuell haben diese Minderheiten auch mehr Zukunft.

Die Texte Zoran Plaškovićs über die Zinzaren in Serbien und Jovanka Djordjević-Jovanovićs über die Griechen in Belgrad lassen zwar Zweifel an Sikimićs (8) und Promitzers (13) Definition aufkommen, wonach versteckte Minderheiten keine eigene Elite haben. Vor allem aber zeigen sie, dass in Großstädten ganz andere Tendenzen dominieren als im ländlichen Raum. Zinzaren und Griechen stellten in vielen Städten die wohlhabende Kaufmannschaft; im 19. Jahrhundert verblasst ihre Stellung dann allmählich, das Bürgertum wird nationalisiert, im Sozialismus schließlich marginalisiert, wenn nicht gar beseitigt. Als Jugoslawien zerfällt, sind Zinzaren und Griechen in Belgrad praktisch verschwunden, assimiliert. Aber in einer Welt, in der „Identität“ und „Wurzeln“ hoch im Kurs stehen, tauchen sie wieder auf, beleben ihre Traditionen. Die Belgrader Griechen lernen Griechisch, die Zinzaren gründen einen Verein. Bedauerlich nur, dass Plašković sein Versprechen, den Inhalt der modernen zinzarischen Identität auszuleuchten, kaum einlöst.

Auf ein weiteres Feld führt der Text von Marijana Jakimova. Hier geht es nämlich nicht um eine alte Minderheit, und es geht auch nicht nur um Südosteuropa. Jakimova beschreibt den Fall bulgarischer Gärtner, die in der Zwischenkriegszeit als „Gastarbeiter“ nach Österreich kamen und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr zurückkehren konnten. Weil die Bulgaren niemals eine anerkannte Minderheit wurden, bietet sich auch hier die Klassifizierung als „versteckte Minderheit“ an. Auch Jakimovas Beobachtung, dass sich die Gruppe nur nach innen distinktive Merkmale bewahrt, nach außen aber assimiliert auftritt, erinnert an andere Fallbeispiele in diesem Band. Dennoch stellt sich die grundsätzliche Frage, ob und wo man eine Grenze ziehen kann zwischen versteckten Minderheiten und modernen (Arbeits-)Migranten, die ja auch nur sehr selten Minderheitenrechte erhalten und daher in gewisser Weise „versteckt“ sind.

Letztlich belegt der Sammelband, dass der Begriff „versteckte Minderheiten“ plausibel und nützlich ist. Dass er nationalpolitisch missbraucht werden kann, spricht nicht gegen den Terminus als solchen. Er füllt eine terminologische Lücke, ist deutlich abgegrenzt von „Nation“ und „nationaler Minderheit“. Dabei ist er offen genug, um Diskussionen zu provozieren, um Experimente und Vergleiche zuzulassen. Das eigentliche Problem liegt nicht im Begriff, sondern im Gegenstand, in den beschriebenen Gruppen selbst – viele von ihnen verschwinden. Vielleicht wird in 50 Jahren niemand mehr von versteckten Minderheiten mehr sprechen, weil man keine mehr findet. Oder man wird etwas anderes darunter verstehen.

 

Klaus Buchenau

 

Redaktion:

Ulf Brunnbauer

 

 

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