Rezension 19
Rezension Nummer 19 vom 02.07.2004
Nicola Mai und Stephanie Schwandner-Sievers (Hg.): Albanian Migration and New Transnationalisms (= Journal of Ethnic and Migration Studies, Bd. 29, Nr. 6, 2003); Carfax Publishing. Taylor & Francis Group, ISSN 1369-183X
Rezensiert von: Georgia Kretsi (Berlin)
Die Auswanderung aus Albanien nach 1990 – v.a. in Richtung Griechenland und Italien – gilt in der Migrationsforschung als eines der wesentlichsten Paradigmen massiver Ost-West-Migration nach dem Ende des Kalten Krieges. Das Spezifische des Falles wurde jedoch selten in der Vielfalt seiner Entstehungsgründe systematisch erforscht. In diesem Forschungsdesideratum sehen der Herausgeber und die Herausgeberin des Bandes „Albanian Migration and New Transnationalisms“ begründet, der als Ergebnis einer gleichnamigen Konferenz, die an der Universität von Sussex im Jahr 2002 stattgefunden hatte, in Form einer Spezialausgabe der Zeitschrift „Journal of Ethnic and Migration Studies“ erschien – einer Zeitschrift also, die eine längere Tradition der Veröffentlichung von Studien zur Migration in Südosteuropa und konkret Albanien hat. Ein zweiter Band mit Konferenzbeiträgen ist übrigens für 2004 geplant.
Den Ausgangsgedanken des Herausgeberduos stellt die These dar, die gegenwärtige albanische Migration bilde eine Ausnahme in den globalen Migrationsbewegungen (S. 940). Als Gründe für diese Annahme werden u.a. erwähnt: die überragende ökonomische Abhängigkeit der einheimischen albanischen Gesellschaft von den Überweisungen der Auswanderer, die proportional zur Gesamtbevölkerung extrem hohe Abwanderungsrate, der plötzliche Ausbruch der Migrationswelle (S. 940). Solcherlei Gründe könnten jedoch auch die Annahme begründen, es handele sich beim albanischen Fall nicht um eine Ausnahme vom globalen Kontext, sondern um eine Verdichtung und Steigerung von auch anderswo anzutreffenden Phänomenen, die durch historische und sozialpolitische Faktoren bedingt sind. Diese Sichtweise wird auch im Eingangskapitel vertreten, in dem die albanische Migration nach 1990 in das Konzept des Modells der südeuropäischen Arbeitsmigration eingebettet wird. Somit lassen sich die Konturen der sozialen und ökonomischen Bestimmungsfaktoren dieser Migrationsbewegung deutlicher sehen: In diesem Modell wird die Migration in ein zeitlich bestimmtes Ineinanderwirken von Makro- und Mikroebene im südosteuropäischen Kontext eingebettet. Sowohl Entwicklungen des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates in den Einwanderungs- als auch den Herkunftsländern müssen Berücksichtigung finden: „Albanian migrants migrated at a time in which the labour markets and welfare systems of the two key host countries [Griechenland und Italien] witnessed a general process of deregulation and a growth of the service sector“ (S. 943). Diese Vorbedingungen determinierten im großem Maß die Entstehung neuer (informeller) Arbeitsmöglichkeiten für die Migrantinnen/en, gleichzeitig produzierten sie allerdings soziale Ungleichheit und die Erosion der Arbeiter/innenrechte. Hieran knüpfen sich Überlegungen von Mai und Schwandner-Sievers zur Identitätsproblematik und zu kollektiven und individuellen Prozessen der Definierung von Differenz und Exklusion von Seiten der Akteur/innen sowie der herrschenden Einwanderungsgesellschaft an.
In diesem thematischen Umfeld bewegen sich die Aufsätze des Bandes. Die meisten Autor/innen nehmen als Ausgangspunkt die post-sozialistische Migrationsbewegung, gleichwohl behalten sie die Verflechtung alter und neuer Diaspora/Migrantengruppen im Auge (der Beitrag von Eda Derhemi) bzw. erörtern den Zusammenhang von historischer und gegenwärtiger Migrationserfahrung und -deutung (Penelope Papailias). Nur zwei der Aufsätze (Isa Blumi und Denisa Kostovicova/Albert Prestreshi) behandeln albanische (bzw. albanophone) Bevölkerungen außerhalb Albaniens (Kosovo, Mazedonien und Griechenland), durch welche sich ? allerdings unbeantwortete ? Fragen zur Terminologie (welche Akteure und welcher institutionelle Kontext wird mit „albanische Migration“ bezeichnet?) und zur Problemstellung des Sammelbandes (handelt es sich um „ethnische Migration“ oder Migration aus konkreten staatlich-gesellschaftlich Strukturen?) notgedrungen aufdrängen.
Der Aufsatz von Isa Blumi, der sich mit der Migration albanischer bzw. albanophoner Bevölkerungen in der Nachkriegszeit beschäftigt, bildet einen interessanten obgleich sehr widersprüchlichen Beitrag. Mit Blick auf die Anwendung der Bemerkungen des afroamerikanischen Autors R. Ellison über die „racial frontiers of humanity“ (S. 949) und die „Unsichtbarkeit“ der schwarzen Bevölkerung in Amerika durch den Autor des Beitrags als deskriptive und figurative Grundlage für seine Analyse der Diskriminierung von albanischen Gruppen im Nachkriegseuropa (ibid.), erwartete die Rezensentin die Begründung der „Unsichtbarkeit“ der Albaner in Europa aufgrund vorherrschender rassistischer, biologistischer Konzepte. Allerdings ist nur von einer Art kultureller Unterdrückung der ethnischen bzw. nationalen Zugehörigkeit der albanischen Einwanderer bzw. der „Unfähigkeit“ (S. 950) ihres öffentlichen Bekennens zum „Albanertum“ die Rede, was offensichtlich eine Wunschvorstellung des Autors ist, mitnichten aber eine von dem präsentierten Material abzuleitende Selbstdeutung der Akteure darstellt. Das von Albanern persönlich erlebte „Trauma“ (S. 950, 952) der institutionellen Unsichtbarkeit wird durch die administrative Identifizierung in den Einwanderungsländern mit dem sie diskriminierenden und vertreibenden Staat (z.B. Jugoslawien) begründet (S. 95ff.). Dennoch stellt der Autor fest, dass dies auch ideologische und soziale Vorteile mit sich bringt, besonders für die kosovoalbanischen Teenager, die darin die Option sehen, von einer marginalen („kosovo-albanischen“) Zugehörigkeit zu einer mit höherem Prestige und internationaler Anerkennung verbundenen (der „jugoslawische“) zu gelangen (S. 955).
Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen ist die vorliegende Studie verdienstvoll, da sie wichtige Fragen anschneidet, wie den Mangel an interner Organisation und Öffentlichkeitsarbeit der konkreten Migrantengruppe und den Bezug dieser Aspekte zu den Sozialisationsformen vor der Emigration (S. 956f.) sowie zu den Entwicklungen nach der Krise der 1990er Jahre. Besonders aufschlussreich ist der Teil des Kapitels über das Verhältnis der kosovoalbanischen Exilanten und Nationalaktivisten zum stalinistischen Albanien sowie ihr zwiespältiges (bzw. feindliches) Verhältnis zu den aus Albanien stammenden (katholischen) Exilanten in den USA, die bei weitem die stärkste auf nationaler Basis organisierte albanische Gruppe im Ausland darstellten. Der Autor betritt damit ein wenig erforschtes Feld in der Albanienforschung, welches nicht durch ethnisch-kulturelle, sondern politische und ideologische Differenzierungen strukturiert ist und darauf hinweist, dass im Grunde nicht alle Gruppen von Albanern bzw. nicht „die Albaner“ der Unsichtbarkeit in den Zielländern während der Nachkriegszeit ausgesetzt waren.
Der Artikel von Corrado Bonifazi und Dante Sabatino enthält eine konzentrierte Aufarbeitung von statistischen Daten zur Migration aus Albanien nach Italien. Die Autoren stellen sich die Aufgabe, einige Vorurteile durch die quantitative Forschung zu widerlegen (z.B. bezüglich der Kriminalität von Einwanderern) und das von den italienischen Medien verzerrte Bild der albanischen Gemeinde mit sozialwissenschaftlichen Belegen zu korrigieren.
Der Artikel von Ankica Kosic und Anna Triandafyllidou bietet eine Beschreibung sozialer Strategien albanischer Migranten in Italien. Gegen ihre Analyse ist jedoch einzuwenden, dass sie fast nur Männer befragten, ohne dass dieses Faktum in den Ergebnissen ihrer Studie, die Allgemeingültigkeit beansprucht, reflektiert werden würde. Erst ganz am Ende wird der Grund dieser Auswahl erwähnt, nämlich dass es sich herausgestellt hätte, dass es „besonders schwierig ist“, albanische Frauen zu verorten und interviewen (S. 1011). Diese Feststellung verblüffte die Rezensentin, denn es gibt keine allgemein bekannten Gründe für diese Feststellung. Wenn man bedenkt, dass die albanischen Migrantinnen in ihrer Mehrzahl arbeitstätig sind, mutet diese Aussage ungerecht und unverständlich an.
In dem Beitrag von Eda Derhemi wird dargestellt, was in den süditalienischen Arberësh Dörfern passierte als in den 1990er Jahren die ersten Migranten aus Albanien antrafen; vor fast fünfzehn Jahren war es in diesen Dörfern noch eine Tugend und besondere Ehre, albanisch zu sprechen (S. 1022), da dies als die Ursprungssprache der im 15 Jh. gebildeten Gemeinschaft der Arberësh galt. Aber nun veränderte sich dies: „A feeling of embarrassment, almost shame, at having Albanian origins began to spread among the Arberësh“ (S. 1024). Durch eine anregende soziolinguistische Handhabung von Beziehungen zwischen Innen- und Außengruppe zeigt die Autorin überzeugend, wie die neu angekommenen Albaner graduell ihren albanischen Akzent verloren und den Arberësh Dialekt im öffentlichen Leben im Ort annahmen, und wie die junge Generation mehr des Arberësh („einer nicht-schriftlichen Sprache am Rande einer funktionalen und strukturellen Destruktion“, S. 1025) als des Albanischen („eine aktive, voll-entwickelte Sprache“, S. 1025) mächtig sind. Macht und Hegemoniebeziehungen zwischen Altansässigen und Neuankömmlingen werden tagtäglich in der sozialen Hierarchie der albanischen Sprache ausgehandelt und spiegeln sich in ihr wider.
Der Artikel von Pano Hatziprokopiou reiht sich in eine Tradition von sozialwissenschaftlichen Studien qualitativer Ausrichtung zu sozialen Strategien und Alltagswahrnehmungen albanischer Migranten in griechischen Städten, wobei bislang eher auf die Hauptstadt Athen und weniger auf die vom Autor ausgewählte zweitgrößte griechische Stadt Thessaloniki fokussiert wurde. Mit seiner Studie will der Autor die These widerlegen, Albaner seien in Griechenland „moderne Eloten“ und erführen in jeglicher Hinsicht Diskriminierung (S. 1052). Da sein Interviewsample in Thessaloniki dem Schneeballprinzip folgt (S. 1034), stellt sich die Frage, ob seine Studie Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Der Autor versucht aber dieser Kritik zuvorzukommen, indem er angibt, seine Fälle durch den Vergleich mit bereits vorhandenen Studien zur albanischen Migration in der Stadt evaluiert zu haben.
Durch eine beeindruckend konzentrierte Aufarbeitung der Entführung eines griechischen Busses von einem jungen albanischen Migranten in Nordgriechenland im Jahr 1999 dringt Penelope Papailias in eine komplexe Analyse von moralischen Ansprüchen, Deutungen männlicher Macht und sozialer sowie nationaler Reproduktionsängste an der griechisch-albanischen Grenze vor. Papailias umschifft die Klippen einer Momentanaufnahme isolierter Ereignisse, indem sie Forschung auf beiden Seiten der Grenzen zwei Jahre nach dem Ereignis betreibt, wobei sie mit den Vätern der während der Entführung des Busses nach Albanien von Polizisten erschossenen Männer (ein Albaner, ein Grieche, beide Mitte 20) spricht und die für den albanischen Entführer in Albanien gedichteten heroischen Lieder epischer Tradition (këngë kreshnike) einer Analyse unterzieht. Überzeugend analysiert Papailias die auf Kassetten aufgenommenen und am Markt zirkulierenden Erinnerungslieder an den Entführer als „Helden der Migration“ und vergleicht sie mit anderen „kulturellen Texten, die in postsozialistischen Gesellschaften in gleicher Weise Gewalt und männliche Subjektivität zelebrieren“ (S. 1068). Gleichzeitig gelingt es ihr die Ähnlichkeit der Narrationen auf der griechischen Seite zu zeigen, die ebenfalls Männer als Hauptakteure der öffentlichen Sphäre im Mittelpunkt positionieren und normative Einsichten zur Familie und Nation reproduzieren. In ihrer kompetenten Darstellung analysiert sie darüber hinaus sprachliche Symbolfelder im Albanischen in Bezug auf „Migration“. Bislang wurde wenig beachtet, inwieweit sich in diesem sprachlichen Feld unterschiedliche Deutungen von männlicher und weiblicher Weltordnung finden lassen und wie dadurch die Naturalisierung der gegenwärtigen Genderhierarchie und der geschlechtlichen Arbeitsteilung reproduziert wird (S. 1064). Der Autorin gelingt außerdem eine bemerkenswert kritische Darstellung des öffentlichen griechischen Umgangs mit Vergleichen zwischen albanische Migration in Griechenland und der Arbeitsmigration aus Griechenland in der Vergangenheit. In diesem Kontext greift sie die Gelegenheit auf, die subtilen Deutungen von „Modernität“ vs. „Armut“ nachzuzeichnen und auf die Re-Personalisierung der Arbeitsbeziehungen in der postfordistischen Ära zu verweisen, die zur Konjunktur von „Vertrauensbeziehungen“ im Arbeitsmarkt führen (S. 1074).
Betrachtungen über die kosovoalbanischen Migration in London von Denisa Kostovica und Albert Prestreshi bilden den Abschlussartikel des Bandes, wobei die Autorin und der Autor mit soziologischen Parametern die erwähnten Migranten/innengruppe darstellen.
Der besondere Erkenntnisgewinn dieses Bandes zur albanischen Migration liegt in der Einlösung der selbstgestellten Aufgabe, multiperspektivisch Fragen zur Vielfalt und Kontinuität der Migration albanischer Bevölkerungsgruppen zu diskutieren und analysieren.
Georgia Kretsi (kretsi@gmx.de)
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Redaktion:
Ulf Brunnbauer (ulf@zedat.fu-berlin.de)