Rezension 18
Rezension Nummer 18 vom 23.06.2004
Joachim von Puttkamer: Schulalltag und nationale Integration in Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867-1914 (= Südosteuropäische Arbeiten, Nr. 115. Hg. von Edgar Hösch und Karl Nehring). München: R. Oldenbourg, 2003; € 64,80.-, ISBN 3-486-56741-1
Rezensiert von: Dániel Fehér
Die Habilitationsschrift Joachim von Puttkamers nimmt sich eines Themas an, das auf den ersten Blick für alle, die sich mit der jüngsten ungarischen Geschichte beschäftigen, ein bekanntes Problemfeld darstellt. Umso schwerer ist es, auf diesem Gebiet grundsätzlich Neues herauszuarbeiten. Dies gelingt dem Autor jedoch durch die umsichtige Wahl seiner Herangehensweise weit über den Umstand hinaus, eine umfassende und tiefgründige Monografie vorgelegt zu haben, die auch theoretisch den aktuellsten Stand des Diskurses um die Problematik der Nationsbildung berücksichtigt.
Puttkamer betrachtet die Schulpolitik des dualistischen Ungarns mit Hinblick auf deren integrierende Rolle in der National- und Nationalitätenpolitik. Sein Blick wendet sich von der geläufigen Fixierung auf polarisierte politische Debatten ab und der Frage zu, welche Rolle Schulpolitik als Bühne der Auseinandersetzung zwischen dem auf nationale-staatspolitische Integration bedachten ungarischen Staat bzw. seiner Behörden sowie den Akteuren der verschiedenen Nationalitäten, die kollektive kulturelle und politische Autonomie einforderten, gespielt hat. Anstelle bekannter und abgegriffener gesellschaftshistorischer Verallgemeinerungen wird dem Leser eine Analyse geboten, die sich durch Freude am Detail auszeichnet und sich an fallspezifisch unterschiedlichen Entwicklungen orientiert. Eines seiner Hauptergebnisse ist daher, dass die verschiedenen untersuchten Nationalitäten – Rumänen und Sachsen in Siebenbürgen sowie Slowaken in Oberungarn – abhängig vom eigenen Organisationsgrad, der nationalpolitischen Wirksamkeit der Eliten und den Möglichkeiten hinsichtlich der Einflussnahme auf den Schulunterricht in sehr unterschiedlichem Maße Erfolge mit ihren politischen Zielen verzeichnen konnten oder aber den Bestrebungen der staatlichen Zentralgewalt ausgesetzt waren.
Verantwortlich für die unterschiedlichen Entwicklungen war nach Puttkamer in erster Linie das spezifische, auf den ersten Kultusminister des dualistischen Ungarns, József Eötvös zurückgehende Autonomiekonzept des ungarischen Schulwesens. Kernpunkt dessen war ein Nebeneinander von staatlicher und konfessioneller Trägerschaft für die Volks- und Bürgerschulen. Durch die weitgehende Autonomie, die Eötvös den Kirchen zugedacht hat – die im Laufe der dualistischen Epoche jedoch immer weiter zurückgenommen wurde und der zunehmenden Aktivität des Staates als Schulträgers weichen musste – war es Minderheiten, die über eigene, autonome Kirchengemeinschaften verfügten, möglich, durch die Auswahl der Lehrkräfte und Lehrbücher sowie durch die Gestaltung der Lehrpläne im staatlich vorgegebenen Rahmen auf die Herausbildung sprachlicher, ethnischer und nationaler Identität bei den Schülern einen nicht zu unterschätzenden Einfluss zu nehmen. Als weitere entscheidende Faktoren macht Puttkammer die Aktivität und den Organisationsgrad national bewusster Minderheiteneliten samt ihrer möglichen Betätigungsfelder – d. h. vor allem bildungsbürgerlich einflussreicher städtischen Zentren mit entsprechend rezeptivem Publikum der jeweiligen Nationalität – sowie den Entwicklungsstand und Ausbau eines in national ausgerichteter Trägerschaft befindlichen lokalen Schulsystems aus.
Nicht nur die Fragestellung des Buches fällt vielschichtig aus. Ebenso facettenreich sind die Problemfelder, über die der Autor den Zugang zum Thema eröffnet. Neben einer strukturellen Analyse des Grund- und Mittelschulwesens mit Einbeziehung der gesetzlich-behördlichen Vorgaben, politischen Richtungsdebatten und Konflikten in deren regional-lokaler Umsetzung werden Fragen der Unterrichtssprache, des Gegensatzes zwischen der Idee und Identifikation mit der politischen Nation zum Selbstverständnis und sprachlich-kultureller Selbstbehauptung der Nationalitäten sowie der Politisierung der Institution Schule durch die der Inszenierung nationaler Kulte dienenden Schulfeste und -rituale erörtert. Diese Bereiche dienen, nebst einer Einführung in die Problematik des nationalen Unterrichtswesens im Spannungsfeld zwischen Nationalstaat und Nationalbewegungen, einem kurzen Blick auf die Wahrnehmung der Schule in der Erfahrung der Schüler und einer abschließenden Auswertung, als Gliederung des Werkes. Als Quellen benennt der Verfasser die gut dokumentierte Gesetzeslage zusammen mit vorangehenden Entwürfen, zugehörigen Ausführungsbestimmungen und Verordnungen der Administration, die diese begleitenden politischen Debatten in Parlament und Presse, Dokumente aus der Behördenpraxis (etwa Berichte von Schulinspektoren oder Korrespondenz zwischen Ministerium und Schulträgern), pädagogische Fachpublikationen in Ungarisch, Deutsch, Rumänisch und Slowakisch, sowie Statistiken aus dem Bereich Schule und allgemeine Bevölkerungsentwicklung. Bezogen auf die Frage nach der Konstruktion nationaler Selbst- und Geschichtsbilder stützt er sich sehr stark auf erhaltene Schulbücher aus der untersuchten Epoche unter Hinzuziehung einzelner Schulprogramme sowie Festreden. Schließlich wird im begrenztem Umfang autobiografisches Material zur Darstellung der politischen Prägung der Schüler durch die Institution Schule hinzugezogen.
Formal glänzt Puttkamers Werk durch einen gewissenhaften bibliografischen Apparat, das alleine schon durch die schiere Anzahl der an die 150 berücksichtigten zeitgenössischen Schulbücher beeindruckt und darüber hinaus eine erschöpfende Übersicht nicht nur zu bildungspolitischen und ungarnbezogenen Themen, sondern ebenso zu allgemeinen theoretischen Aspekten der Kulturgeschichte, insbesondere im Bereich der Nationsbildung und Geschichtskultur bietet. Dazu gesellt sich ein viersprachiges Register der Orts- und Komitatsnamen (inklusive einer Karte mit den deutschsprachigen Komitatsbezeichnungen) und ein Personenregister. Vor allem die Übersetzungen der Ortsnamen leisten für weniger versierte Kenner der siebenbürgischen und oberungarischen Landschaften eine brauchbare Orientierung. Ein wenig mager fällt hingegen die Illustration des Textes durch Karten (insgesamt drei Stück) oder in Tabellenform präsentiertem statistischen Material (sieben Tabellen) aus, auf grafische Aufarbeitung der dem Textkörper keineswegs fremden Erhebungsdaten muss der Leser leider komplett verzichten. Dies entspricht jedoch dem im besten Sinne historisch-erklärenden Stil des Autors, der generell auf die Kraft des qualitativen Arguments setzt und auf soziologische Methoden allenfalls ergänzend zurückgreift.
Das einführende Kapitel „Nationalstaatliche Schulpolitik in einem vielsprachigen Umfeld“ skizziert den durch den österreichisch-ungarischem Ausgleich von 1867 entstanden historischen Rahmen. Ein besonderer Blick gilt den Akteuren der nationalen Integration – dem ungarischen Vielvölkerstaat und seinen in Fragen der politischen Nation strikt zentralistisch denkenden ungarischsprachigen Eliten auf der einen, sowie den nationalen Minderheiten und deren auf Anerkennung als eigenständige Nation innerhalb des gemeinsamen Staates bedachten Eliten auf der anderen Seite. Darüber hinaus gibt das erste Kapitel Aufschluss über politische Leitbilder und administrative Strategien der Fachpolitiker im Bildungsministerium, über die Lage der größeren Nationalitäten (Magyaren, Rumänen, Serben, Slowaken, Ruthenen und Deutsche), über den aktuellen Forschungsstand und hinsichtlich der Quellenlage.
Ausgangspunkt ist die auf dem Konzept der politischen Nation ruhende ungarische Staatsidee, in der die ungarische Sprache – und damit deren Rolle im Schulunterricht – theoretisch mit den andern Sprachen kulturell gleichberechtigt ist, als Staatssprache jedoch eine Sonderstellung bzw. -behandlung genießt. Diese schon auf der theoretischen Ebene schwierige Trennung wurde in der Praxis umso mehr auch von ihren Vertretern ad absurdum geführt, als dass in zunehmendem Maße die ungarische Kultur als die einzig staatstragende und nationale Einheit stiftende hervorgehoben und deren Aneignung durch die Schüler als Zielvorgabe für den Unterricht in allen Schulen eingefordert wurde. Kein Wunder also, dass die Erwartungshaltung der Regierung an alle Bürger hinsichtlich der Kenntnisse der Staatssprache und der vermeintlich identitätsstiftenden Mythen aus der ungarischen Geschichte trotz vorgegebener und wohl auch praktisch existierender Toleranz gegenüber den nicht ungarisch sprechenden Ethnien auf deren Seite als mal sanfter, mal brachialer Assimilationsdruck aufgefasst worden ist. Puttkamer weist darauf hin, dass dementsprechend innerhalb dieses Staates, der die Gewährung sprachlich-ethnisch begründeter Kollektivrechte konsequent verweigert hatte, insbesondere „die kirchliche Sphäre als Freiraum kultureller Entfaltung“ an Bedeutung gewann (S. 19). Durch die weitestgehend konfessionelle Trägerschaft der Volks- und Mittelschulen war es also nur folgerichtig, dass diese „zum zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung um unterschiedliche nationalpolitische Konzeptionen“ geworden sind (ebd.).
Das zweite Kapitel „Nationale Schulpolitik und kirchliche Autonomie – Modernisierung in einem vormodernem Rahmen“ untersucht den institutionellen und sozialen Handlungsspielraum, in dem sich die Bildungspolitik sowohl von regierungsamtlicher Seite als auch durch die Akteure der Nationalbewegungen entfalten konnte. Besprochen werden zum Einen die gesetzlichen Vorgaben, insbesondere durch das Volksschulgesetz von 1868 und durch das „Lex Apponyi“ von 1907 sowie die daraus resultierenden staatlichen Aktivitäten und Maßnahmen – mit einem Seitenblick auf den Ausbau der Schulen in staatlicher Trägerschaft. Zum Anderen wird die Autonomiestruktur der Kirchen beschrieben, die als freie Träger für den überwiegenden Anteil der Schulen verantwortlich waren. Schließlich bietet dieses Kapitel noch eine Nahaufnahme ausgewählter slowakischer, rumänischer und deutscher Grund- und Mittelschulen in Siebenbürgen und in Oberungarn, anhand deren die tatsächlichen Wirkungsmöglichkeiten nationalpolitischer Akteure im Lichte der Widerständigkeit des Schulalltags unter die Lupe genommen werden.
Das dritte Kapitel „Staatssprache und Mehrsprachigkeit“ untersucht anhand statistischen Materials das Verhältnis der Nationalitäten zu der Staatssprache und anderen Zweitsprachen (insbes. Deutsch als Mittlersprache) sowie deren Veränderungen durch den forcierten Ausbau des obligatorischen Ungarischunterrichts ab 1879. Es wird aufgezeigt, dass die Funktion des Ungarischen regional höchst unterschiedlich ausfallen konnte, etwa als Mittel für den sozialen Aufstieg (Oberungarn) oder der alltäglichen interethnischen Kommunikation (Siebenbürgen). Daraus wird auch deutlich, dass die Verbreitung von Ungarischkenntnissen nicht generell als patriotisches Assimilierungsprojekt der Zentralregierung, die auf diesem Wege bei der Wählerschaft der Mehrheitsnation um leicht zu erheischenden Sympathiepunkte bemühten war, abgetan werden kann, sondern ebenso das Eigeninteresse zumindest bestimmter Schichten der Nationalitäten darstellte. Das belegt Puttkamer einerseits damit, dass abgesehen von politischen Abwehrkämpfen keine konkreten Fälle belegt werden können, bei denen es zur Verhinderung des Ungarischunterrichts gekommen wäre, sowie andererseits eindrucksvoll mit einer großen Anzahl an Annoncen, in denen anderssprachige Kindermädchen, Haus- bzw. Nachhilfelehrer oder Gastfamilien für Kinder gesucht werden – woraus ersichtlich wird, dass der Bedarf nach Spracherwerb insbesondere des Ungarischen und des Deutschen offensichtlich weit darüber hinausging, was die Schulen qualitativ und quantitativ bedienen konnten. Insgesamt zeigt sich, dass der Ungarischunterricht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts selbst angesichts zahlreicher sachlichen Widerstände bemerkenswerte Erfolge aufweisen und mit der Zeit durchaus auch zum Abbau der auf der Ebene der Sprachpolitik generierten Benachteiligungen der nichtmagyarischen Bevölkerung – zum Beispiel was die Bildungschancen anging – beitragen konnte. Unter dem Strich stellt Puttkamer fest, dass die Bereitschaft des Fremdsprachenerwerbs, insbesondere was das Ungarische angeht, „sich nationalen Kategorien weitgehend entzog und in ihren jeweiligen Ausprägungen an die jeweiligen lokalen Verhältnisse und sozialen Milieus gebunden war“ (S. 251).
Im vierten Kapitel „Nationsidee und Völkervielfalt im Unterricht“ betrachtet der Verfasser die Strategien seitens der Zentralgewalt bzw. den Akteuren der Minderheiten zur Durchsetzung der jeweils eigenen Auffassung von Nation im erzieherischen Rahmen. Für die Nationalitäten bedeuteten die Bemühungen der Schulpolitik, das ungarische Geschichtsbild und die ungarische Geschichtsmythologie zum Inhalt der Curricula zu machen, dass die Behauptung ihrer nationalen Eigenständigkeit in hohem Maße davon abhing, wie erfolgreich sie als Gegengewicht ein eigenes nationales Geschichtsbild an ihren Schulen anbieten und vermitteln konnten. Um diesen Antagonismus nachzuzeichnen, werden nacheinander die auf die Schaffung staatsbürgerlicher Treue im weitesten politischen und moralischen Sinne bedachten staatlichen Lehrpläne und demgegenüber die „doppelte Loyalität“ (neben dem Staat zur eigenen Volkstümlichkeit) betonenden Lehrpläne an Schulen der Nationalitäten, deren Vorgaben für den Geschichtsunterricht, die Auseinandersetzungen um Geschichtsbücher sowie die konkurrierenden Geschichtsbilder und Gründungsmythen analysiert. Dem gleichen Ideenkonflikt ist auch das fünfte Kapitel gewidmet, das sich der Inszenierung dieser Konzepte im Rahmen von Schulfesten annimmt, ohne dabei allerdings wesentliche zusätzliche Erkenntnisse außer – auf theoretischer Ebene – die ohnehin bekannte intensive Wirkung solch emotionalisierter Rituale zu konstatieren. Das interessante gemeinsame Fazit wird also schon am Ende des vierten Kapitels gezogen – nämlich dass trotz des gemeinsamen Grundwertes der interethnischen Toleranz und Gleichberechtigung die wettstreitenden Nationsbegriffe nicht inkompatibler hätten ausfallen können. Von wenigen Ausnahmen (z.B. bei den Zipsern oder Juden) abgesehen gingen die Nationalitäten nicht auf die homogenisierende Stoßrichtung der magyarischen Integrationsidee ein, sondern interpretierten die genannten Grundwerte im Sinne eines Anspruchs auf nationale Eigenständigkeit in einem Vielvölkerstaat. Eine Bereitschaft zu synthetischen Tendenzen, die zu einem konstitutiven Konsens einer politischen Nation hätten führen können, waren dabei bei keinem der maßgeblichen Akteure erkennbar.
Im vorletzten Kapitel „Die Schüler“ unternimmt der Verfasser den Versuch, die komplizierte Frage nach dem konkreten Effekt der nationalen Erziehungsstrategien auf die zu Erziehenden jenseits von pauschalen statistischen Bilanzen zu beantworten. Allein methodisch ergeben sich dabei die Probleme der Auswahl der heranzuziehenden Quellen und die Möglichkeit der Operationalisierbarkeit der Befunde. Neben den Aktivitäten kultureller Vereinigungen und Bildungszirkeln werden vor allem persönliche Erinnerungsschriften sowie die Dokumentationen einzelner Disziplinarverfahren herangezogen, so dass die Ergebnisse entsprechend fallspezifischer Natur sind, aber dennoch manche Vermutungen der vorangehenden Kapitel hinsichtlich regionaler und sozialer Ausdifferenzierung der nationalpolitischen Auseinandersetzungen bestätigen. Puttkamer kommt zu dem Schluss, dass trotz des allgemeinen Ideenkonflikts im Bildungsbereich kaum Fälle nachweisbar sind, wo schulische Repressionserfahrungen einzelne Schüler ins Lager nationalpolitisch Radikaler getrieben hätten, vielmehr bestimmten außerschulische Erfahrungen die Einstellung der Schüler zu der Erwartungshaltung in der Schule. Spektakuläre Konflikte mit offener Rebellion und regelmäßigen Relegationen fanden ohnehin hauptsächlich bei den Slowaken Oberungarns statt, was insbesondere an der durchpolitisierten Stellung der Beschäftigung mit slowakischer Literatur lag, die hier von den Behörden zu gerne als Zeichen panslawischer Umtriebe gedeutet wurde, während in Siebenbürgen deutsche oder rumänische Literatur durch die solide Verankerung muttersprachlicher Schulen mehr oder minder als selbstverständlich galt.
Im letzten Kapitel her resümiert der Verfasser seine Ergebnisse und stellt fest, dass die ideologisch gefärbte Schulpolitik der ungarischen Regierung eine hohe Mobilisierung an Ressourcen erforderte, jedoch durch – unterschiedlich – erfolgreiche regionale Abwehrstrategien kaum die erhofften Resultate erbrachte, abgesehen davon, dass das Denken in je nach Akteuren sehr verschieden gedeuteten nationalen Kategorien im politischen Diskurs eine alles andere überschattende Position einnahm und nicht selten die Lösung struktureller Probleme auch im Bildungsbereich lähmte oder verhinderte. Die im Schlusswort geäußerte Vermutung, die hinsichtlich der Nationalitätenfrage eher spaltende bzw. provozierende Schulpolitik der Regierung sei nicht zuletzt durch ihre Rezeption im Ausland zu einer bedeutenden Bedrohung des Staatsbestandes erwachsen, widerspricht in den Augen des Rezensenten gerade der sonst die Untersuchung prägenden Ausklammerung der Finalitätsfrage. Richtig wertvoll zeigt Puttkamers Ansatz nämlich, dass über die historischen Entwicklungen im dualistischen Ungarn nur dann wirklich wertvolle differenzierte Erkenntnisse zu erzielen sind, wenn die historiografisch weit verbreitete Krankheit, die Geschichte dieser Periode immer nur von Trianon her zu lesen und in allem eine zum Zusammenbruch führende Tendenz zu erblicken, endlich überwunden wird. Das gelingt dem Autor über weite Strecken, so dass eine Differenzierung möglich wird, die nicht den beliebten kurzsichtigen Gegensatz von „magyarisierend“ vs. „separatistisch“ pflegt, sondern die facettenreiche Entwicklungen hinsichtlich des muttersprachlichen Unterrichts sowie des Unterrichts in der Staatssprache und der nationalen Ausrichtung konkurrierender Bildungskonzepte ans Tageslicht bringt.
Puttkamer behandelt ein Thema, das auch nach seiner eigenen Einschätzung heute noch in der Lage ist, die Gemüter zu erhitzen, wenn es um Fragen der Nationalstaatlichkeit, der kulturellen Bestimmung der Nation und um Minderheitenrechte geht. Mit einer bemerkenswerten Sachlichkeit gelingt es ihm die Falle, in die fast alle „äußere Betrachter“ seit R.W. Seton-Watson getappt sind, nämlich mehr oder minder offen als Anwalt der einen oder anderen „Partei“ in diesem lange währendem Disput aufzutreten, zu umgehen. Das Ergebnis ist eine Betrachtung, das den ideologischen Schleier lüftet und den ungarischen Staat zwar nicht vom Vorwurf der Parteilichkeit zugunsten der Verbreitung der ungarischen Sprache und des ungarischen Nationskonzepts freispricht, jedoch die Nationalbewegungen als Akteure anstatt als Opfer versteht und die viel differenzierten Interessen und Gestaltungsmöglichkeiten auf allen Seiten offen legt. Seinem eigenen Ehrgeiz, einen Beitrag zur Historisierung und damit zur Entpolitisierung des Themas geleistet und damit einen substantiierteren Umgang ermöglicht zu haben, wird Puttkamer im Rahmen der Möglichkeiten einer solchen Untersuchung in vollem Umfang gerecht.
Dániel Fehér
Redaktion: Ulf Brunnbauer (ulf@zedat.fu-berlin.de)