Rezension 14
Rezension Nummer 14 vom 03.05.2004
İskender Özsoy: İki Vatan Yorgunları – Mübadele Acısını Yaşayanlar Anlatıyor. [Die, die zweier Länder müde sind – Menschen, die den Schmerzen des Bevölkerungsaustausch leben, erzählen] Mit einem Vorwort von Yaşar Kemal. İstanbul: Bağlam Yayıncılık 2003, 170 S. mit zahlreichen Fotos, ISBN 975-6947-88-8, ca. 5 €.
Yahya Koçoğlu: Hatırlıyorum – Türkiye’de Gayrimüslim Hayatlar. [Ich erinnere mich – Die Leben der Nichtmuslime in der Türkei] İstanbul: Siyahbeyaz – Metis Yayınları 2003, 186 S. mit zahlreichen Fotos, ISBN 975-342-403-5, ca. 5 €.
Yahya Koçoğlu: Azınlık Gençleri Anlatıyor. [Die Jugendlichen der Minderheiten erzählen] İstanbul: Siyahbeyaz – Metis Yayınları 2001, 376 S., ISBN 975-342-336-5, ca. 6 €.
Rezensiert von: Stefan Ihrig (Berlin)
Entgegen der im Westen weit verbreiteten Ansicht, in der Türkei dürfe keine Literatur, und insbesondere keine kritische, zu solch sensiblen Themen wie den Minderheiten oder zu Atatürks Zeit veröffentlicht werden, gibt es neuerdings eine Reihe von Publikationen, die sich mit solchen Themen beschäftigen. So sind zum Beispiel in den letzten Jahren drei Bücher erschienen, die man unter „oral history“ fassen kann und von denen sich zwei mit den in der Türkei lebenden Minderheiten (hier: Juden, Griechen und Armenier) sowie der Problematik des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches beschäftigen.
İskender Öszoys Buch İki Vatan Yorgunları ist eine Sammlung von Interviews mit Türken, die im Rahmen des Bevölkerungsaustausches 1923 in die Türkei übergesiedelt sind bzw. wurden. Diese Interviews waren zuvor in verschiedenen türkischen Zeitungen, so auch der Cumhürriyet, erschienen. Die hier Sprechenden haben den Austausch als Jugendliche erlebt und beschreiben ihre alte Heimat, die Übersiedlung und ihre Situation in der türkischen Republik. Schon der Titel Die, welche zweier Länder müde sind, aber auch Yaşar Kemals Vorwort (Titel: Den Menschen von seiner Heimat trennen ist, wie sein Herz herausreißen) sowie die als Zwischenüberschriften verwendeten Zitate („Zwischen zwei Gebetsrufen liegen zwei Heimatländer“; „Das Herz ist in Saloniki geblieben“; „Auch Sie [die Griechen] sind weinend gegangen“; „Die Heimat in den Träumen“) lassen spüren, dass hier Zeitzeugen sprechen, die noch heute unter der Erfahrung der Zwangsumsiedlung leiden. Typisch für den empfundenen andauernden Verlust ist der Bericht einer Türkin aus der Nähe von Saloniki, aus dem hier die von ihr selbst betonten Details widergegeben werden sollen.
Sie erzählt, dass ihre Muttersprache Griechisch sei, obwohl sie aus einem türkischen Dorf stamme. Nur ihr Vater habe noch Türkisch sprechen können. Eines Tages sei es den wenigen im selben Dorf lebenden Griechen verboten worden Türkisch zu sprechen, so dass sich das eigentlich türkische Dorf dann über die Zeit zu einem griechischsprachigen Dorf entwickelt hatte. Als der Bevölkerungsaustausch begann, trafen einige Griechen aus Anatolien im Dorf der Zeitzeugin ein, bevor sie es mit ihrer Familie verlassen hatte. Sie erinnert sich, dass die griechischen Mädchen kein Wort Griechisch sprachen. Türkisch sei eben deren Muttersprache gewesen. Ihr Interview schließt mit den Sätzen: „Atatürk hat uns hierher gebracht. Wir lieben Atatürk sehr. Wegen ihm sind wir in der Türkei. Doch unser Dorf vermisse ich, meine Heimat ist Saloniki.“
Gerade die Beurteilung „der Griechen“ durch die Zeitzeugen ist sehr interessant. In fast allen Fällen werden die Nachbarschaft zu den Griechen und das Verhalten der Griechen gegenüber den Türken als sehr positiv dargestellt. Auch die aus Anatolien kommenden Griechen werden meist als den noch nicht ausgewanderten Türken sehr freundlich gesinnt beschrieben. Zwar gibt es hier Ausnahmen – in einem Fall wird beschrieben, dass neu angekommene Griechen aus Izmir die noch im Dorf lebenden Türken töten wollten – doch auch hier sind es wiederum Griechen, nämlich die Nachbarn aus dem Dorf, welche die Türken gerettet haben.
In Özsoys Buch wird klar, dass die betroffenen türkischen Zeitzeugen den Bevölkerungsaustausch als Zwangsmaßnahme empfunden haben, die sie entwurzelt hat. Es ist eindeutig Griechenland, das hier mit dem Wort Vatan (Heimat, Vaterland) belegt wird. Jedoch wird bei der Lektüre einiger Zeitzeugenberichte auch klar, dass der Verlust der Heimat in gewisser Weise bereits vor dem Bevölkerungsaustausch begonnen hatte und sich die Lebenswelten der Griechen und Türken in Griechenland immer mehr voneinander zu entfernen begonnen hatten. Doch die Gefühle des Verlustes und des Zwangs überwiegen in den von Özsoy gesammelten Berichten. Negative Erinnerungen an die griechische Heimat werden, so scheint es, weitgehend von den Zeitzeugen ausgeblendet. Im Anhang des Buches finden wir auch das türkisch-griechische Protokoll zum Bevölkerungsaustausch.
Die beiden Bücher von Yahya Koçoğlu hingegen konzentrieren sich auf die in der Türkei lebenden nichtmuslimischen Minderheiten – also Griechen, Juden und Armenier. Zwar fehlen hier u. a. die syrischen Christen im Südosten der Türkei, doch wie auch Koçoğlu (2003) im Vorwort bedauert, konnte er keine Süryan“ finden, die zu einem Interview bereit waren.
In seinem ersten Buch (Koçoğlu 2001) lässt der Autor Jugendliche der Minderheiten zu Wort kommen . In seinem zweiten Buch (Koçoğlu 2003) ist es die ältere Generation, die über ihr Leben in der türkischen Republik bzw. über das Ende des Osmanischen Reiches erzählt. Beide Bücher bieten dem Leser außerdem eine kurze thematische Einführung, so im Buch zu den Jugendlichen jeweils ein Einführungskapitel zur Geschichte der betreffenden Minderheit und im Buch zu den Älteren einige Informationsartikel als Einschub an verschiedenen Stellen im Text zu den Schlüsselmomenten für alle oder einzelne Minderheitengruppen. Zu diesen Schlüsselmomenten gehören die hier so genannte „armenische Umsiedlung 1915“,(1) die „Vorfälle des Jahres 1934“ in Thrakien,(2) die Varlık Vergisi („Vermögenssteuer“),(3) die „Vorfälle des 6. und 7. September 1955“(4) sowie die Aushebung der 20 Jahrgänge (20 Kura Askerlik).(5) In den verschiedenen Berichten erfahren wir über die Erlebnisse der einzelnen Zeitzeugen vor allem in Bezug auf diese Schlüsselerlebnisse. Aus der Vielzahl der hier wiedergegebenen Berichte repräsentative Aspekte auszuwählen ist aufgrund der Diversität der Zeitzeugen was Ethnie, soziale Herkunft bzw. Stellung und das Alter betrifft kaum möglich. Doch erwähnenswert ist sicherlich ein Bericht zu den anti-griechischen Ausschreitungen von 1955, in dem der Zeitzeuge betont, dass die Ausschreitungsaktivisten nicht die eigenen türkischen Nachbarn, sondern aus Vororten mit Lastwagen eigens ins Istanbuler Stadtzentrum gebrachte Türken gewesen seien. Auch hier werden die unmittelbaren Nachbarn eher als Schutz denn als Bedrohung wahrgenommen.
Die Berichte der jüngeren Gesprächspartner sind in Form eines einheitlichen Interviewtyps gehalten. Sie geben über die Erfahrungen im Militär, über die Sprachkenntnisse in der Minderheitensprache und über andere Aspekte ihrer Situation in der Türkei Auskunft. Erwähnenswert ist, dass die Mehrheit sowohl der älteren als auch der jüngeren Minderheitenangehörigen sich selbst primär als „Türken“ sehen und erst sekundär ihre Minderheitenidentität erwähnen.
Alle drei Bücher sind von größtem Interesse für alle, die sich mit der Türkei, den Minderheiten dort, aber auch allgemeiner mit dem türkischen Nationalismus, dem Ende des Osmanischen Reiches und dem unmixing of peoples(6) auf dem Balkan interessieren. Besonders in Hinblick auf die schwindende Zahl der Griechen in Istanbul – Überalterung und Emigration haben zur Folge, dass sie heute auf etwa 1500-2000 geschätzt werden– ist es wichtig, Zeitzeugen dieser Gruppe zu Wort kommen zu lassen, bevor die Gruppe als solche nicht mehr existiert. (7) Gleiches gilt natürlich erst recht für Zeitzeugen des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches. Alle drei Bücher wenden sich an ein sehr breites Publikum in der Türkei und es ist zu hoffen, dass sie mithelfen, dort ein größeres Interesse an solchen Publikationen zu wecken, und so vielleicht weitere vergleichbare Sammlungen nach sich ziehen werden.
Stefan Ihrig
E-Mail: Stefan.Ihrig@gmx.net
Redaktion: Heiko Hänsel
E-Mail: haenselh@zedat.fu-berlin.de
(1) 1915 Ermeni Tehciri.
(2) Am 3.Juli 1934 kam es in verschiedenen Städten Thrakiens zu anti-jüdischen Ausschreitungen, welche dazu führten, dass die meisten der ca. 15.000 dort ansässigen Juden die Region verließen.
(3) Steuer vom 11. November 1942, die unter anderem das Ziel hatte, das durch die Bedrohung durch die deutschen Truppen an der Grenze dauerhaft mobil gehaltene Heer zu finanzieren. Diese Steuer war zwar als allgemeine Maßnahme formuliert, fand aber fast nur gegen die Minderheiten Anwendung. Sie hatte zu Folge, dass viele ihren Besitz verkaufen mussten und einige auch in Arbeitslager gehen mussten. In den Werken zur Türkei der 30er und 40er Jahre wird zwar wiederholt auf die Rolle der Türkei als vermeintlicher Retter der Juden vor nationalsozialistischer Verfolgung hingewiesen, doch die diskriminierenden Maßnahmen wie die Varlık Vergisi oder die Vorfälle in Thrakien werden kaum oder gar nicht thematisiert. So z. B. bei Shaw, Stanford: Turkey and the Holocaust – Turkey’s Role in rescuing Turkish and European Jewry from the Holocaust. Basingstoke u.a. 1993. Jeoch gibt es zur Varlık Vergisi schon eine Reihe von im Westen weitgehend unbeachteter Literatur: z. B.: Balı, Rıfat N.: Bir Türkleştirme Serüveni – Cumhurriyet Yıllarında Türkiye Yahudileri 1923-1945 [Ein Türkisierungsabenteuer – Die Juden der Türkei in den Jahren der Republik 1923-1945]. İstanbul 1999; Aktar, Ayhan: Varlık Vergisi ve `Türkleştirme’ Politikaları. [Die Vermögenssteuer und die „Türkisierungspolitik“]. İstanbul 2000; Akar, Rıdvan: Varlık Vergisi Kanunu – Tek Parti Rejiminde Azınlık Karşı Politikası. [Das Vermögenssteuergesetz – Die Politik gegen die Minderheiten in der Zeit der Einparteienherrschaft]. Istanbul 1992.
(4) 6-7 Eylül Olayları – Ausschreitungen gegen die Griechen Istanbuls nach dem bekannt wurde, dass eine Bombe auf Kemal Atatürks Haus in Thessaloniki geworfen wurde. Nach diesen Vorfällen haben viele der nach dem Bevölkerungsaustausch verbliebenen Griechen die Türkei verlassen.
(5) Zu Anfang des Zweiten Weltkrieges wurden schlagartig mit einer Frist von 48 Stunden alle Nichtmuslime, die zwischen 1895 und 1915 geboren wurden, zum Militärdienst einberufen.
(6) Brubaker, Rogers: Aftermaths of Empire and the Unmixing of Peoples. In: Ethnic and Racial Studies 18 (1995), H. 2, S.189-218.
(7) „Loxandras Erben – Die ‚letzten’ Griechen vor einer ungewissen Zukunft“. In: Neue Zürcher Zeitung vom 2. Februar 2004, S. 17.