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Tradierung

Tradierungsprojekt „Geschichtsbewusstsein vom Zweiten Weltkrieg und Familiengedächtnis in Serbien und Kroatien“

Ein Forschungsbericht (Stand 31.10.2003)

 

Gefördert von der Volkswagen-Stiftung

Leiter: Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Prof. Dr. Harald Welzer (Univ. Witten-Herdecke)

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen:

Natalija Bašić & Sabine Moller

Laufzeit: Herbst 2002-Herbst 2004

 

Vor dem Hintergrund der Methodologie und der Befunde der abgeschlossenen Studie „Tradierung von Geschichtsbewußtsein“ (Welzer/ Moller/ Tschuggnall 2002) werden derzeit vergleichend fünf weitere europäische Länder (Dänemark, Kroatien, Niederlande, Norwegen sowie Serbien) und Israel untersucht, um mehr über die Gegenwartsrelevanz von Vergangenheitsbildern und -deutungen in verschiedenen westlichen und postsozialistischen Gesellschaften zu erfahren.

Diese internationale Studie „Vergleichende Tradierungsforschung“ wird im Verbund der Universität Witten Herdecke, der Freien Universität Berlin und des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen durchgeführt und von zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen in den jeweiligen Erhebungsländern unterstützt. Finanziert wird das Projekt maßgeblich mit Mitteln der Volkswagenstiftung sowie der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Weitere Informationen zum Projekt finden sich auf der homepage  www.memory-research.de [22. 09. 2003].

Seit September 2002 beschäftigt sich das komparative Projekt auf der Grundlage von offenen themenzentrierten Interviews mit Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Serbien und Kroatien. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der Familie als Erinnerungsmilieu und der jeweiligen intergenerationellen Kommunikation für die Konstitution von Geschichtsbewusstsein hervorzuheben.

Im folgenden wird in Form eines Werkstattberichts ein kurzer Überblick über den Stand der Erhebungs- und Auswertungsarbeiten gegeben. Für den Fall des Geschichtsbewußtseins in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist vorab zu bemerken, dass divergierende Vergangenheitsdeutungen in der Eskalation der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und der damit verbundenen Ethnisierungsprozesse konfliktverschärfend gewirkt haben können. Insofern kommt gerade der Untersuchung von Tradierungsprozessen in Serbien und Kroatien besondere Bedeutung zu. Überdies trägt das gewonnene Material auch dazu bei, die Bedeutung der postjugoslawischen Kriege (1991-1995 und 1999) im Familiengedächtnis zu erschließen. Generell zielt das Gesamtprojekt auf die Beantwortung der Frage, wie die je unterschiedliche Involvierung in den Geschichtszusammenhang der nationalsozialistischen Expansion und deren Nachkriegsentwicklungen sich in verschiedenen Umgangsweisen mit der NS-Vergangenheit niederschlagen.

Zunächst einige Worte zur Materialerschließung. Auch im länderübergreifenden Projekt bilden qualitative Interviews die Grundlage der Untersuchung. Hierfür wurden wie in der deutschen Studie gemeinsame Familiengespräche (in denen mindestens drei Generationen an einem Tisch versammelt wurden) sowie Einzelgespräche mit den Familienmitgliedern geführt. Das aufgezeichnete Material umfasst bisher 160 Interviews mit Angehörigen von 40 Familien in Kroatien und Serbien.

Dabei sind Gespräche in Ex-Jugoslawien niemals nur Gespräche mit Vertretern unterschiedlicher Generationen, sondern immer auch verschiedener politischer Kollektive: Kroaten, Serben, Juden, Ungarn, Tschechen, Donau-Schwaben, Kommunisten, Nationalisten etc. Darüber hinaus stellen sowohl regionale als auch Stadt-Land-Unterschiede eine überaus wichtige Determinante der Vergangenheitskonstruktionen dar.

Die Gesprächspartner wurden nach dem Schneeballverfahren rekrutiert. Die Interviews wurden vor dem Hintergrund eines impliziten Gesprächsleitfadens geführt, ähneln im Charakter weitgehend Alltagsgesprächen über die Vergangenheit. Voraussetzung für ein Interview war, dass hier die Zeitzeugen vor 1935 geboren wurden, also zu Kriegsbeginn in Serbien und Kroatien mindestens sechs Jahre alt waren. Die befragten Kinder von Zeitzeugen waren in der Regel Nachkriegskinder. Die Mehrzahl der befragten Enkelkinder ist erst nach der Tito-Ära geboren und zum Gesprächszeitpunkt noch in der Ausbildung gewesen.

Die Gespräche wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort durchgeführt, auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Zusätzlich haben die Interviewer ausführliche Gesprächsprotokolle angefertigt. Zusätzlich wurden mittels demographischer Fragebögen Daten zu Alter, Geschlecht, Ausbildung, Beruf, Geburtsort, Familienstand, Aufenthaltsorten während des Zweiten Weltkrieges, Parteimitgliedschaften und Zugehörigkeiten zu Organisationen erhoben. Alle Befragten und in den Interviews vorkommenden Personen wurden pseudonymisiert.

Die Interpretation der Interviews, die einzelfallanalytisch und kategorial vergleichend vorgenommen wird, kann auf die erprobte Methodenkombination der bundesrepublikanischen Studie zurückgreifen, in der mit der hermeneutischen Dialoganalyse und inhaltsanalytischen Verfahren gearbeitet wurde.

Die Einzelfallanalysen erfolgen in Interpretationsgruppen, an denen generell auch Muttersprachler teilgenommen haben. Um eine angemessene Interpretation und Übersetzung zu gewährleisten, ist die Arbeit am sprachlichen Original (Tonband und Transkript) unumgänglich. Vor dem Hintergrund der hermeneutischen Einzelfallanalysen wird das im deutschen Projekt entwickelte Kategoriensystem und dazugehörige Codierschema überarbeitet und erweitert. Gegenwärtig wird mit der computergestützten Inhaltsanalyse des Interviewmaterials begonnen ( Kuckartz 1999; Jensen 2000).

Da sich das Projekt noch in der Auswertungsphase befindet, kann noch nicht qualifiziert über Ergebnisse berichtet werden. Es zeichnet sich aber in allen beteiligten Ländern ab, daß sich die familialen Tradierungsprozesse sowohl thematisch als auch hinsichtlich der generationsspezifischen Deutungen und Haltungen von der deutschen Studie unterscheiden. So wird die Vergangenheit des zweiten Weltkriegs in Serbien und Kroatien jeweils durch den Filter der postjugoslawischen Kriege thematisiert; in den Niederlanden werden, anders als in der deutschen Studie, die Großeltern recht heftig von ihren Enkeln hinsichtlich ihres historischen Verhaltens kritisiert. Zusätzlich ist hervorzuheben, daß regionale Unterschiede sich in den gegenwärtig untersuchten viel gravierender auf die Geschichtsdeutungen und Vergangenheitskonstruktionen auswirken, als das in der Bundesrepublik (mit Ausnahme des Ost-West-Unterschieds) der Fall ist.

Die Forschungsgruppe hat zur Kontextualisierung der empirischen Arbeit mehrere workshops sowie eine internationale Tagung zur komparativen Tradierungsforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut durchgeführt.

 

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