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Rezension 8

Rezension Nummer 8 vom 13.02.2004

Béla Tomka: Szociálpolitika a 20. századi Magyarországon európai perspektivában [Sozialpolitik in Ungarn im 20. Jahrhundert in europäischer Perspektive]. Budapest: Századvég Kiadó 2003, 215 S., ISBN 963-9211-62-1, 1 960 Ft. (ca. 7,35€)

 

Rezensiert von: Julia Brandt (Berlin/Budapest)

 

Formell betrachtet handelt Béla Tomkas Buch von dem, was der Titel verheißt – der ungarischen Sozialpolitik im letzten Jahrhundert – und scheint damit hauptsächlich Informationen für Sozialpolitiker oder Spezialisten für die Geschichte von Sozialsystemen zu bieten. Der Vergleich der ungarischen Entwicklung mit der Westeuropas macht das Buch jedoch zu einer Fundgrube an Informationen für am Vergleich interessierte Sozialhistoriker. Tomkas Diskussion von Erklärungsmodellen zur Entstehung und Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme auf der Grundlage des von ihm aufbereiteten Materials, nicht zuletzt die These von den „politisch-ideologischen Eigenheiten“, die die Entwicklung solcher Systeme deutlich mitprägten (vgl. Kapitel. 5 des Buches bzw. den Schluß der vorliegenden Besprechung), führt schließlich mittelbar auf die Ebene allgemeiner sozialgeschichtlicher bzw. kulturgeschichtlicher Diskussionen. Wer über besondere „Pfade“ von Modernisierung nachdenkt oder nach der Spezifik der ostmittel- bzw. südosteuropäischen Entwicklung(en) sucht, findet hier unmittelbar verwertbare und unmittelbar anregende Informationen, die der sachliche Titel und die Eingrenzung auf Ungarn auf den ersten Blick nicht erwarten lassen.

 

In seinem auch in Englisch vorliegenden Buch (1), niedergeschrieben unter anderem während eines Aufenthalts am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas in Berlin, untersucht Béla Tomka die Entwicklung der Sozialpolitik in Ungarn während des „kurzen 20. Jahrhunderts“, im Zeitraum 1918-1990, im Vergleich zur Entwicklung zahlreicher westeuropäischer Staaten. Im Zentrum der Betrachtung stehen das Sozialversicherungssystem (Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) sowie dieses ergänzende und flankierende Leistungen anderen Zuschnitts. Ziel ist, spezifische Züge der Entwicklung dieses Spektrums „staatlicher bzw. staatlich regulierter sozialer Maßnahmen“ (S. 22) in Ungarn herauszuarbeiten, bzw. dessen Konvergenz oder Divergenz zur europäischen Entwicklung insgesamt in einzelnen Phasen des Untersuchungszeitraums zu prüfen. Dazu wählt Tomka die Methode des asymmetrischen Vergleichs: Grundzüge der gesamteuropäischen Entwicklung bieten die Grundlage zur eingehenden Betrachtung des ungarischen Falls. Ungarn gegenübergestellt werden die heutigen EU-Staaten mit Ausnahme Spaniens, Portugals, Griechenlands und Luxemburgs, sowie die Schweiz und Norwegen. Tomka nimmt dabei nicht nur einen strukturellen bzw. qualitativen Vergleich des Systems der Institutionen und Maßnahmen vor, sondern untersucht die Konvergenz zentraler Entwicklungen auch quantitativ. Während zu Westeuropa zwar nicht immer einheitlich erhobene, jedoch immerhin umfangreiche Zahlenangaben vorliegen, hat der Verfasser Angaben für Ungarn durch eine Forschungen teilweise erst erschlossen und Datenreihen nach dem Muster der westlichen Vergleichsländer erarbeitet. Für die quantitative Bestimmung von Divergenz bzw. Konvergenz wurden standardisierte ungarische Werte zu Durchschnitt bzw. Streuung der westeuropäischen Werte in Beziehung gesetzt (zum Verfahren: S. 29f.). Die zugrunde liegenden Angaben, einschließlich derer zu Entwicklung, Leistungsumfang und Zugangskriterien der einzelnen Sozialsysteme, sind in einem Anhang ausführlich dokumentiert (S. 145-199).

 

Kapitel 1 untersucht die Entwicklung sozialstaatlicher Ausgaben in Westeuropa bzw. in Ungarn nach verschiedenen gebräuchlichen Definitionen. Kapitel 2 verfolgt die Formierung von Versicherungen und diese ergänzenden staatlichen Sozialprogrammen sowie deren Gewichtung zueinander. Kapitel 3 untersucht, wer auf welcher Grundlage Zugang zu deren Angeboten hatte und wie hoch die gewährten Leistungen waren. Kapitel 4 prüft Organisationsformen und Kontrollmechanismen. Kapitel 5 resümiert konvergierende bzw. divergierende Entwicklungen und diskutiert anhand der zu Ungarn gewonnenen neuen Einsichten bisherige Thesen zur Entstehung und Entwicklungsdynamik sozialstaatlicher Maßnahmen. In Kapitel 6 faßt Tomka seine Ergebnisse zusammen. Es folgt ein Literaturverzeichnis (S. 201-216), das neben westlicher Forschungsliteratur die leider sehr knappe einschlägige ungarische Forschungsliteratur praktisch umfassend enthält.

 

Tomkas Untersuchungen erbringen mehrere interessante Einsichten. Wie Kapitel1 belegt, blieben Ungarns Sozialausgaben (nach den Kriterien von International Labour Organisation bzw. OECD) im Verhältnis zum GDP im gesamten Untersuchungszeitraum hinter denen in Westeuropa zurück. Allerdings war dieser Abstand in der Zwischenkriegszeit deutlich kleiner und hatte abnehmende Tendenz. Berücksichtigt man neben den Leistungen aus dem Sozialversicherungssystem auch die Zuwendungen an die Staatsbediensteten (ohne Versicherungscharakter), lagen die relativen Aufwendungen in der Zwischenkriegszeit sogar im europäischen Durchschnitt. Dagegen war der Abstand in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts weitaus größer als in der spärlichen Literatur zum Thema allgemein vermutet. Um einen Eindruck von der jeweils mehre mögliche Berechnungsansätze verfolgenden Datenpräsentation zu geben: Sozialausgaben nach den Kriterien der OECD wuchsen zwar von 11,3% des GDP 1960 auf 13,9% 1970, 19,6% 1980 und 27,8% 1990. Damit lagen sie 1960 bei 70% der westeuropäischen Vergleichswerte. In der Folgezeit wuchs der Abstand wieder, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre stiegen die Aufwendngen wieder auf 4/5 des westeuropäischen Durchschnitts an (S. 46f., Tab. 6 Appendix) Noch 180 war der Abstand zu Westeuropa damit größer als 1930 (S. 49). Diese Zahlen berücksichtigen freilich nicht die Aufwendungen für Preissubventionen. Diese lagen in Ungarn nach Einschätzung Tomkas allerdings niedriger als in etlichen anderen Staaten des RGW, so unter anderem in der DDR.

Die Entwicklung der sozialpolitischen Institutionen entsprach bis zum II. Weltkrieg den europäischen Trends (Kapitel 2). Die in Westeuropa weit verbreitete Arbeitslosenversicherung blieb dagegen in der Zwischenkriegszeit eine Fehlstelle.

 

1875 Nach Regelungen, die die Fürsorge für Arbeiter im Krankheitsfall zeitlich begrenzt in die Verantwortung des Arbeitgebers stellten

 

1891/1892 Einführung der Krankenversicherung für Industriearbeiter

 

1907 Ausdehnung der Krankenversicherung auf Familienangehörige sowie Erweiterung um eine Unfallversicherung für Industriearbeiter und Angestellte im Handel

 

1913 Entstehung der Rentenversicherung (zunächst nur für den Öffentlichen Dienst, vor dem I. Weltkrieg wurde für diesen Kreis auch eine Erziehungsbeihilfe eingeführt)

 

1919 Erhöung der Leitstungen der Krankenversicherung gewährten Leistungen sowie Gewährung einer Schwangerschafts- und Wochenbettbeihilfe

 

1927 Reformierung der Unfallversicherung sowie Einbeziehung der Berufskrankheiten in die Unfallversicherung.

 

1918 Beginn des Rentenprogramms für nicht-staatliche Angestellte

 

1939 Ausdehnung der Familienbeihilfen auch auf Beschäftigte in Industrie, Handel und Bergbau.

 

Nach der kommunistischen Machtübernahme wurden die Sozialversicherungsprogramme gesellschaftspolitischen Zielen des neuen Regimes untergeordnet. Einerseits wuchs ihre Bedeutung, weil ab 1950 die herkömmliche Armenfürsorge zunehmend abgeschafft wurde und die Gewährung von Leistungen aus den Versicherungsprogrammen an Arbeitsverhältnisse gebunden war. Dabei wurden Unterschiede zwischen einzelnen Sektoren bzw. Gruppen von Arbeitnehmern gemacht, die diskriminierenden Charakter trugen und die erst in den 60er bzw. 70er Jahren, bei gleichzeitiger Ausweitung von Anspruchsberechtigung und Leistungsumfang der Versicherungen, abgebaut wurden. Andererseits weist Tomka auf die im Vergleich zu Westeuropa geringere Bedeutung der Leistungen des Versicherungssystems hin, die aus der politisch gelenkten Preisbindung und der Eigenart des Arbeitsmarktes mit seiner permanent unbefriedigten Nachfrage ergab.

 

Nachdem in den 50er Jahren die Krankenversicherung den höchsten Anteil am sozialpolitischen Leistungsaufkommen gehabt hatte, sank dieser Anteil – im Unterschied zu Westeuropa – wegen der niedrig gehaltenen Einkommen im Gesundheitswesen in der Folgezeit stark ab. Beträge in Höhe von ca. 10% der Aufwendungen für das Gesundheitswesen flossen zusätzlich innerhalb des sich etablierenden Bestechungssystems in diesen Sektor. Dagegen stiegen die Aufwendungen für die Altersrenten, die schließlich ab 55 Jahren (Frauen) bzw. 60 Jahren (Männer) gewährt wurden. Dies geschah weniger wegen des wachsenden Anteils alter Menschen als wegen der Rücknahme von Diskriminierungen in den 50er Jahren bzw. der zunehmend auch vor dem Krieg erworbene Ansprüche berücksichtigenden Veränderung der Bemessungsgrundlage sowie der Berechnungssätze. Einen hohen Anteil an den internen Proportionen der Sozialleistungen machten die staatlich finanzierten Aufwendungen für Kindererziehungsbeihilfen aus, die die Geburtenrate von ihrem Rekorde brechenden Tiefstand fortbewegen sollten. 1966 eingeführt und dann sukzessive erweitert, lagen Familien- und Kindererziehungsleistungen 1980 bei 13,3% der Sozialversicherungsausgaben bzw. bertugen 1975 21% aller Sozialleistungen, was 1/3 der gesamten Rentensumme entsprach (S. 65).

 

Soziale Rechte (Kapitel 3) hatte zunächst bis zum Krieg ein relativ kleiner Kreis von Versicherten, der jedoch Leistungen in einer relativen Höhe wie in Westeuropa erhielt. Berechtigungskriterien entsprachen dem konservativen Typus der europäischen Entwicklung (Versicherungsprinzip statt Bedürftigkeit). Die Verwaltung der Organisationen (Kapitel 4) erfolgte wie in den Vergleichsländern durch Selbstverwaltungsorgane der Beitragszahler. Nach dem Krieg wurden die Institutionen verstaatlicht und formell gewerkschaftlicher, faktisch staatlicher Kontrolle unterworfen. Beiträge wurden weitgehend von den Arbeitgebern erbracht, was sie im überwiegenden Maße zu Produktionskosten des staatlichen Sektors machte. Auch auf der Ausgabenseite verschmolz die Sozialversicherung mit dem Staatshaushalt, von dem sie erst ab 1989 wieder mühsam getrennt wurde. Angesichts der Tatsache, daß schon 1960 der staatliche Zuschuß zu den Ausgaben des Sozialversicherungssystems bei 37,1% und 1980 bei 43,6% gelegen hatte (S. 110), ist nachvollziehbar, welche Herausforderung dies in technischer wie politischer Hinsicht darstellte.

 

Nach politisch definierten bzw. auf dieser Grundlage beschnittenen Zugangsrechten und Anspruchshöhen in den frühen 50er Jahren wurde der Kreis der Berechtigten ab Ende des Jahrzehnts ausgedehnt, bis er in den 80er Jahren fast die gesamte Bevölkerung umfaßte. Teilweise wurden Leistungen als staatsbürgerliche Rechte gewährt (Krankenversicherung). Damit übertraf Ungarn hinsichtlich des Kreises der Berechtigten schließlich viele westliche Vergleichsländer. Allerdings war die Höhe der Leistungen im Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen bis in die 70er Jahre relativ niedrig. Dies stimulierte die Fortführung von Arbeitsverhältnissen in dem dies ständig nachfragenden Arbeitsmarkt. Interessant ist der hier ausnahmsweise vorgenommene Vergleich zu anderen sozialistischen Ländern: Anfang der 80er Jahre erreichte das durchschnittliche Rentenniveau 57% es Durchschnittslohns. Dies näherte sich nicht nur dem westeuropäischen Durchschnitt, sondern lag nach Tomkas Angaben zudem weit über den Durchschnitt von 30% in der DDR bzw. 45% in der Tschechoslowakei (S. 95).

 

Auf einzelnen Gebieten bzw. in einzelnen Phasen des Untersuchungszeitraums sind in Ungarn also mit den westeuropäischen divergierende bzw. konvergierende Entwicklungen zu beobachten (Kapitel 5). Der Vergleich der westeuropäischen Entwicklungen untereinander wie die Betrachtung des ungarischen Falls zeigt weiter, daß weder wirtschaftliche noch politische, demografische oder andere Faktoren ausschließlich zur Erklärung von Entstehung und Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme herangezogen werden können. Gegenüber dem Diffusionsmodell, dem funktionalistischen, die Entstehung des Sozialsektors aufs Erfordernissen des Industrialisierungsprozesses erklärenden Ansatz, dem konflikttheoretischen, mit der Unterstützung sozialpolitischer Forderungen durch soziale Gruppen, in erster Linie die in Parteien und Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung argumentierenden Erklärungsmodell, oder Erklärungen, die primär vom eher autoritären oder parlamentarischen Zuschnitt des jeweiligen Regierungssystems ausgehen, favorisiert Tomka grundsätzlich ein Mehrfaktorenmodell, das Elemente all dieser Modelle mit ihren partiellen Vorzügen verbindet. Besondere Leistungsfähigkeit gesteht er allerdings dem auf die sozioökonomische Entwicklung konzentrierten funktionalistischen Ansatz zu. Als mögliches Synthesemodell für Westeuropa wird für das integriert-pluralistische Modell Peter Floras und Jens Albers plädiert (S. 124).

 

Eine Schwierigkeit bei der Einordnung der ungarischen Entwicklung in diese Modelle bildet der geringe Umfang der Literatur zu diesem Thema, die sich weitgehend ausschnitthaft einzelnen Fragen widmet. Für die Zeit bis 1945 dominiert darin eine Variante des Konfliktmodells: Entstehung des Sozialsystems als Ergebnis des Kampfes der Arbeiterklasse; für die Folgezeit im Allgemeinen eine sozioökonomische Argumentation, die jedoch die tatsächlichen Aufwendungen des Staates für sozialpolitische Maßnahmen im engeren Sinne stark überschätzt. Konflikte zwischen ökonomischen Wachstumszielen und sozialpolitischen Anliegen werden darin nur selten bemerkt.

 

Wie insbesondere in Kapitel 2 vorgestellt, erfolgte die Einführung wichtiger sozialpolitischer Institutionen in Ungarn relativ früh innerhalb einer mit Blick auf Westeuropa erst vergleichsweise spät einsetzenden Industrialisierung. Erste klassische Versicherungsangebote wendeten sich an die Industriearbeiterschaft, die jedoch nur eine kleine Gruppe unter allen Beschäftigten darstellte. (Die Konzentration Tomkas auf Versicherungen und staatliche Leistungen blendet zudem weitgehend aus, daß die „sozialen“ Probleme der vielfach gleichzeitig Eigentümerstatus besitzenden Landarbeiter oder Kleinpächter weiter in der Zuständigkeit der kommunalen Armenfürsorge oder polizeilicher Regelungen blieben. Ausgeblendet ist ferner die Integration der vorher bestehenden freiwilligen Hilfskassen in das Versicherungssystem.) Unbedingt zuzustimmen ist dem Verfasser in der Argumentation, daß weniger die internen Herausforderungen der Lage der Industriearbeiter bzw. der anrollenden Industrialisierung oder die Stärke der Arbeitnehmerorganisationen zur Einführung der vorgestellten ersten Institutionen beitrugen. Vielmehr verweist er auf den von den in Deutschland und bald auch in anderen Ländern eingeführten Versicherungsformen ausgehenden Demonstrationseffekt, der im Modellcharakter dieses Ansatzes wie grundsätzlich auch in seinem Potential zu Lösung politischer Probleme bestand. Daß in der Folgezeit die Staatsbediensteten eine zentrale Zielgruppe staatlich eingeführter Sozialversicherungen bzw. ergänzender sozialpolitischer Maßnahmen standen, und Versorgungsformen von dort ausgehend im I. Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit allmählich auf andere Gruppen ausgedehnt wurden, spricht für diese „Diffusionsthese“ und zeigt darüber hinaus, wie andere Gruppen als die politisch eher schwachen Arbeiter unter dem Eindruck des Demonstrationseffektes der westeuropäischen Vorbilder eigene Standesinteressen wahren konnten. (Zu untersuchen wäre, ob die Spezifik des ungarischen Modernisierungsprozesses, die Zweigstruktur der Industrie mit ihrer spezifischen Arbeitskräftenachfrage, und parallel dazu die soziale Dislozierung der Oberschicht wie auch der Strukturwandel auf dem Lande durch die Agrarmodernisierung, auch der „sozialen Frage“ andere Züge verliehen, die auf diesem Gebiet durchschlugen.) Tomka weist weiter darauf hin, daß die Ausweitung sozialer Leistungen vielfach auf politische Kataklysmen – auf Krieg und Räterepublik oder auch auf die Niederschlagung der Revolution von 1956 – folgte. Die Ausgestaltung von Versicherungen wie ergänzenden Leistungen in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums demonstriert daneben eindrucksvoll den Einfluß ideologischer Vorgaben. Generell konstatiert Tomka, daß ideologische Voraussetzungen Einführungszeitpunkt wie Ausgestaltung der einzelnen Programme beeinflußten. „Obwohl die untersuchte westeuropäische bzw. ungarische Entwicklung nicht unbedingt widerlegt, daß die wirtschaftlich-technologische Entwicklung zu gesellschaftlicher Konvergenz führt, lenkt sie doch die Aufmerksamkeit darauf, daß dies nur bei gleichzeitigem Wirken der erforderlichen politischen Bedingungen eintreten kann“, schließt der Verfasser seinen Systematisierungsversuch (S. 134, vgl. S. 141).

 

Der konsequent durchgehaltene Ansatz des asymmetrischen Vergleichs und die Reflexion daraus abzuleitender theoretischer Einsichten macht die Studie zu einer wertvollen Grundlage für weitere historisch-soziologische Forschung wie praktische politische Überlegungen. Tomka hat enorme Datenmengen durchgearbeitet bzw. teils selbst rekonstruiert und nach einheitlichen Maßstäben präsentiert. (Seine früheren Arbeiten, unter anderem zur Geschichte der ungarischen Banken wie zur historischen Soziologie der Familie haben ihm hierfür das im Buch ganz beiläufig gehandhabte Rüstzeug verschafft.) Diese konsequente quantifizierende Stützung aller Argumente ist ein großer Vorzug seiner Arbeit. Die vorgetragenen Einschätzungen entgehen damit dem Verdacht, primär sozialpolitischen Überzeugungen des Verfassers zu folgen. Während im Text nur wesentliche Trends herausgestellt werden, sind im Anhang zahlreiche weitere Details dokumentiert. Manchmal ist das bedauernswert, weil einzelne Feststellungen im Text sehr allgemein ausfallen. Gleiches gilt für den Umgang mit Referenzliteratur. Zugute zu halten ist dem Vorgehen freilich, daß es ein sehr knapp gehaltenes, diszipliniert geschriebenes Buch erbracht hat, in dem das komplexe Thema auf knapp 150 Seiten abgehandelt wird.

 

Die gewählte Gliederung ist Konsequenz des quantifizierenden Ansatzes. Angesichts der gewählten Methode (asymmetrischer Vergleich) wie des asymmetrischen Forschungsstandes zu Westeuropa bzw. zu Ungarn spricht vieles für dieses Herangehen. Das methodische Interesse des Verfassers – teilweise bereits die Suche nach Konvergenz bzw. Divergenz, vor allem aber das einleitend bekundete Interesse an der gesellschaftlichen Integrationsleistung sozialer Systeme, sowie die Suche nach einem Erklärungsmodell einzelstaatlicher Entwicklungen – wirft darüber hinaus Fragen auf, die für deren Beantwortung der Text wohl die Grundlage bietet, auf die er aber nicht hinführend argumentiert. Ein weiteres Problem des gewählten Vorgehens ist die zwangsläufige Wiederholung einzelner Informationen. So müssen bei der Vorstellung von Anteilen einzelner Programme am GDP in Kapitel 1 auch Institutionen bzw. ihr Typen mit ihrer Entstehungszeit und der Ausdehnung bzw. Erweiterung ihrer Programme vorgestellt werden. In Kapitel 2 werden sie dann systematisch vorgeführt, bei der Frage nach den sozialen Rechten in Kapitel 3 werden die Erstreckung von Zugangsrechten und die Ausdehnung von Leistungsansprüchen dann mit weiteren Details diskutiert. Dies führt gewiß dazu, daß wesentliche Züge der betrachteten Systeme und auch die sonst nicht eben eingängigen quantitativen Informationen rezeptiv bemerkt werden müssen und im Zuge der Argumentation von allen Seiten betrachtet werden. Es arbeitet jedoch nur wenig der abschließend vertretenen, m.E. außerordentlich interessanten These zu, daß „politisch-ideologische Eigenheiten“ (S. 130), „ideologische Faktoren“ (S. 131), mit anderen Worten kulturelle Voraussetzungen und etablierte Diskurse wie Konstellationen der Bearbeitung politischer Konflikte, die Einführung wie Ausgestaltung einzelner Programme beeinflußten. Die expliziten Feststellungen und Argumenten des Verfassers aufnehmend ließe sich die These m.E. dahingehend ausbauen, daß Traditionen der Deutung sozialer Probleme, spezifische Fassungen der „sozialen Frage“ und Setzungen von Prioritäten bei ihrer Lösung in einer Formierungsphase langfristig die Ausgestaltung und interne Gewichtung wie auch die Definition von Zugangsqualifikationen bzw. die Bestimmung von Leistungsformen und –umfang für einzelne Nutzer bestimmten. Diese prägende Phase wird offensichtlich zum einen von Herausforderungen der Frühindustrialisierung und deren politischer Deutung, zum andern von spezifischen Problemen der Modernisierung des Staates bestimmt. Besonders in Ostmitteleuropa kommen weitere politische Rahmenbedingungen, unter anderem solchen einer späten Nationsbildung, hinzu. Konstellationen der Hochindustrialisierung formen diese Entwicklung aus. Implizit hat der Verfasser m.E. auch Material zur Fundierung einer solchen Annahme zusammengetragen, doch bleibt er bei der allgemeineren Feststellung des Einflusses ideologischer Setzungen. Weitere Faktoren, die den Verlauf einzelner nationaler bzw. einzelstaatlicher Pfade bestimmen, hat Tomka jedoch im Kontext der systematischen Abhandlung einzelner Züge der betrachteten Institutionenkomplexe vorgestellt.

 

Die konsequente Verfolgung der Frage nach der Wirkung früher Problemdefinitionen und soziokultureller Setzungen hätte freilich ein anderes Buch erbracht. Ihre Abarbeitung hätte auf der Untersuchung einzelner westeuropäischer Verläufe bzw. des ungarischen Falls in seiner Einzelentwicklung, innerhalb des breiteren Kontextes auch anderer Maßnahmen ohne Versicherungszuschnitt und in nicht-staatlichem Auftrag bzw. nicht-staatlicher Trägerschaft, aufzubauen. Statt von den – Vergleichbarkeit sichernden – ILO- oder OECD-Kriterien bei der Erfassung des untersuchten Bereichs wäre von der jeweils zu beobachtenden Logik der Bestimmung von Aufgaben und Formen ihrer Bearbeitung durch Spektren jeweiliger Institutionen auszugehen. Insbesondere wären die hier nur am Rande der – im Allgemeinen auf erworbene Ansprüche bauenden oder Leistungen für das Gemeinwesen (Kinderaufzucht) anerkennenden – untersuchten Institutionen arbeitende, und nicht unbedingt staatlich veranlaßte Armenfürsorge und ähnliche zivilgesellschaftliche Aktivitäten einzubeziehen. Dies wäre dann freilich ein anderes Buch. Die Frage danach hat Tomka mit seiner gründlichen Abhandlung des Vergleichs der Sozialsysteme Ungarns und Westeuropas aufgeworfen. Mit seiner Studie liegt zudem nunmehr eine Grundlage vor, von der aus derartige Fragestellungen untersucht werden können.

 

Angesichts der Kürze der Darstellung wie aufgrund des gewählten Zeitfensters bleiben auch andere interessante und aktuell diskutierte Fragen außerhalb der Betrachtung. Tomka untersucht vorrangig grundsätzliche Proportionen innerhalb der Institutionen des Sozialsystems sowie dessen gesamtvolkswirtschaftliches Gewicht. Finanzierung bzw. individuell zu erbringende Voraussetzungen für Leistungen werden in diesem Rahmen nur kurz vorgestellt (eingehender geschieht dies im Anhang). Kein besonderes Augenmerk erhält die Frage der Finanzierung enzelner Versicherungen nach dem Kapitaldeckungs- bzw. nach dem Umlageprinzip. Die Umstellung auf letzteres Prinzip in der Bundesrepublik nach dem II. Weltkrieg wird z.B. - bei Erwähnung einer Reform des Versicherungssystems und eines Anstiegs der Rentenhöhen – nicht erwähnt. Gleiches gilt für die Proportionen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen an den Beiträgen, bzw. andere Finanzierungsformen wie direkte und indirekte Steuern, oder die Belastungen der Löhne und anderer Einkommen durch Sozialabgaben bzw. Steuern für soziale sowie andere Zwecke. Damit wird auch auf einen Vergleich möglicher Unterschiede in dieser Hinsicht sowie die langfristige Funktionsfähigkeit spezifischer Lösungen aus dem Vergleich nicht eingegangen. Ebenso werden die seit den 80er Jahren zu beobachtenden, mehr oder weniger tiefgreifenden Reformversuche in einzelnen westeuropäischen Ländern ausgeblendet. Ihre Betrachtung hätte freilich über den bis 1990 angesetzten Untersuchungszeitraum hinausgeführt.

 

Dies ist nicht nur eine technische Frage bezüglich der Versicherungssysteme, oder eine politische mit Blick auf die vom Staat oder von staatlich verordneten Systemen zu finanzierenden Leistungen. Dahinter steht letztlich das Problem, von welchem Zuschnitt die individuell zu bewältigenden Lebensherausorderungen sind, deren Bewältigung mit Hilfe der betrachteten Wohlsfahrtssysteme ermöglicht wird. Mit anderen Worten: welche Variante der Moderne die implizite Grundlage dieser Systeme ist, und wieweit die Veränderungen der letzten Jahrzehnte, die sich als postindustriell oder auch als solche der „zweiten Moderne“ (Beck) beschreiben lassen, damit bearbeitet werden können. Ob Lösungen auf den männlichen Vollzeitarbeiter mit mit stabiler Familie zugeschnitten sind, oder unvollständige Erwerbsbiographien auf der Grundlage entwerteter bzw. sukzessiv ergänzter Arbeitsmarktqualifikationen individuell noch nutzbare Leistungen innerhalb des Sozialversicherungssystems erbringen, wird jedoch ebenso wie die erwähnten technischen Fragen der Finanzierung nicht untersucht. Wieder ist anzumerken, daß dies eine Frage wäre, die den Umfang der Studie erheblich erweitert hätte. Ihre Bearbeitung hätte den in der Aufarbeitung des Datenmaterials und der systematischen Vorstellung der daraus erwachsenden Einsichten steckenden Arbeitsaufwand, den der Verfasser in diese vergleichende Untersuchung investiert hat, erheblich vergrößert. (Vermutlich wäre auch niemand bereit, ein derartig langwieriges Projekt zu finanzieren.) Die Verfolgung dieser Fragen hätte zudem bedeutet, den systematischen Ansatz aufzugeben und „Westeuropa“ als die eine Seite des Vergleichs auch in sich kontrastiv zu betrachten. Die Frage bleibt jedoch, nicht zuletzt angesichts der aufschlußreichen Beobachtungen Tomkas zur Konvergenz einzelner Entwicklungslinien in der Zwichenkriegszeit, bestehen und wäre eine eingehendere Untersuchung auch mit Blick auf die Nachzügler der Industrialisierung wie Ungarn und andere Länder Ostmittel- oder Südosteuropas wert.

 

Julia Brandt

E-Mail: julia.brandt@csnet.de

 

Redaktion: Heiko Hänsel

E-Mail: haenselh@zedat.fu-berlin.de

 

(1) Béla Tomka: The Welfare State in Hungary in comparative perspective 1918-1990. Berlin: Akademie-Verlag 2003.

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