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Rezension 59

Thede Kahl: Hirten in Kontakt. Sprach- und Kulturwandel ehemaliger Wanderhirten (Albanisch, Aromunisch, Griechisch).  Wien, Münster: LIT Verlag, 2007 (= Balkanologie. Beiträge zur Sprach- und Kulturwissenschaft, Band 2), 384 S., 29.90 EUR, br., ISBN 978-3-8258-0944-7.

 

Mit seinem 2007 erschienenem Werk „Hirten in Kontakt. Sprach- und Kulturwandel ehemaliger Wanderhirten (Albanisch, Aromunisch, Griechisch)“ liefert der Wiener Balkanologe und Geograph Thede Kahl einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis kultureller und sprachlicher Kontinuitäten im Grenzraum Albaniens und Griechenlands anhand des Phänomens des Wanderhirtentums. Methodischer Eklektizismus, ausführliche Feldforschungen und fundierte Kenntnisse der Region und der dort beheimateten Idiome fügen sich in Kahls sehr bildliche Darstellung.

Untersuchungsschwerpunkt sind die vor allem lexikalischen Gemeinsamkeiten der von den nomadischen Hirtengesellschaften gesprochenen Minderheitensprachen untereinander und mit den jeweiligen Standardsprachen vor dem Hintergrund des Prozesses der Sesshaftwerdung. Die Untersuchungsregion wird durch das historische Epirus gebildet, also die gebirgige Region in Nordwestgriechenland und Südalbanien dar.

Einen großen und wichtigen Platz in Kahls Beschreibungen nehmen der theoretisch-methodische Teil (S. 1-33) und die Beschreibungen der Grundlagen (S. 33-136) ein. Hierunter fallen geographische Beschreibungen des Untersuchungsgebietes, eine linguistische Aufschlüsselung der Standardsprachen und Dialekte, eine historisch-politische Einordnung, die für das Verständnis des Wanderverhaltens der Hirten elementar ist, eine kulturelle Analyse der Hirtengesellschaften und ein Abriss des Forschungsstandes. Dabei werden die Problematik einer systematischen Untersuchung der komplexen Prozesse der Sesshaftwerdung, die Aufschlüsselung der sprachlichen Gemeinsamkeiten und deren Kontextualisierung sehr deutlich. Die diachrone Betrachtung von nicht schriftlichen Sprachen lässt oft keine eindeutigen Schlüsse zu, zumal gerade die Sprachsituation der Hirten hinsichtlich Mehrsprachigkeit und soziolinguistischen Aspekten bisher kaum untersucht worden ist. Wörterbücher der Hirtenterminologie stützen sich außerdem, so Kahl, bisher nur auf die wenigen schriftlichen Quellen. Hinsichtlich der fortschreitenden Sesshaftwerdung und der damit einhergehenden Assimilierung an kulturelle und sprachliche Strukturen der „Aufnahmegesellschaften“ ist ein allmähliches „Sprachsterben“ (S. 299) der Minderheitensprachen feststellbar und somit eine Untersuchung wie die vorliegende äußerst fruchtbar. Die Praxis der Feldforschung bestand hier aus biographisch-narrativen und assoziativen Interviews, bei denen vor allem auf die Fähigkeit des code switching geachtet wurde, sowie aus einem standardisierten Fragekatalog bezüglich spezifischer Hirtenterminologie. Die Interviewten waren meist ältere Personen mit vollständigem Fachvokabular, aber auch Familienmitglieder der jüngeren Generation, die meist keinen Bezug zur jeweiligen Minderheitensprache hatten.

Zentrale Thesen Kahls sind, dass Relief, Klima und Verwaltung die Fernweidestrategien vorgaben, dass die balkanische Mehrsprachigkeit vor allem auf den urbanen Raum konzentriert sei, dass Interferenzen durch Abhängigkeiten entstehen konnten, dass die Assimilation vor allem durch die Sesshaftwerdung verstärkt wurde, dass berufliche Neuorientierungen in diesem Hinblick zum Wechsel der Sprache des wirtschaftlichen Vorteils führten, und schließlich dass die heutigen Beobachtungen auch auf frühere Prozesse übertragbar sind. Diese Thesen untersucht Kahl im Folgenden sehr systematisch, indem er historische, sozio-kulturelle und linguistische Kontexte herstellt und präzise auf die Gesellschaftsform der Wanderhirten eingeht.

Die Feldforschungsergebnisse werden mit Unterstützung von Bildern dargestellt und bestätigen die Thesen Kahls in unterschiedlich dichter Weise. Hier schlüsselt der Autor den Katalog der Hirtenfachtermini systematisch in allen untersuchten Sprachen (Albanisch – Çamisch, Labisch, südtoskische Mundarten, Aromunisch – Armâneaşti, Rrεmεneşti, Griechisch – Sarkatschanisch, Kopatscharisch, Dialekte des Hohen Pindos, Nōtia idiōmata) auf und zieht Rückschlüsse auf Prozesse der Sesshaftwerdung und Kontaktsituationen. So wird vor allem die Art der Konservierung von Hirtentermini (geschlossene Gesellschaftsform des Tschelnikats) bei gleichzeitiger Interferenz mit anderen Sprachen und Dialekten (Kontaktsituationen vor allem wirtschaftlicher Art) herausarbeitet und deren Verlust in den nachfolgenden, meist sesshaften Generationen erklärt (Assimilierung aus wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Gründen). Die Ergebnisse, die in Bezug zu Sesshaftwerdung, Religion, Sprachprestige, wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Mehrsprachigkeit gesetzt werden, bringen einen Gewinn für die Balkanlinguistik mit ihrer These der typisch „balkanischen Mehrsprachigkeit“. Kahl geht davon aus, dass eine Mehrsprachigkeit nur eingeschränkt existierte und existiert. Grund für Interferenzen in der Hirtenterminologie sei nicht eine flächendeckende Mehrsprachigkeit, sondern der Kontakt der überwiegend einsprachigen ländlichen Bevölkerung mit der zwei- oder mehrsprachigen städtischen.

Desiderata der Erforschung des Phänomens der Wanderhirten in den Gebieten Epirus’ und des ganzen Balkans zählt Kahl abschließend selbst auf. Eine phonetische und genauere semantische Untersuchung der Mundarten ist bis jetzt noch nicht gegeben und eilt, denn die Sprechergeneration ist schon jetzt äußerst betagt. Außerdem scheint es sinnvoll – anhand neuer politischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten, z.B. der erneuten Grenzöffnung – die Möglichkeit der Rückkehr zu Fernweidewirtschaft unter ökonomischen und ökologischen Aspekten zu untersuchen. Kahl hat in vielen Feldern schon Vorarbeit für weitere Untersuchungen geleistet und bietet einen breiten, übersichtlichen Einblick in die Thematik.

 

Rezensiert von Agnes Fuchsloch (München).
Email: agnes_f@gmx.de

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