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rezension48

Sabine Rutar: Kultur – Nation – Milieu. Sozialdemokratie in Triest vor dem Ersten Weltkrieg. Essen: Klartext Verlag, 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen, Band 23).

384 Seiten. ISBN 3-89861-116-7, Euro 45,00

 

Triest, seit dem 19. Jahrhundert die größte und bedeutendste Hafenstadt der Habsburger Monarchie, zeichnete sich durch ihre komplexe multiethnische Bevölkerung aus, die zur Jahrhundertwende mehrheitlich italienischsprachig war, gefolgt von Slowenen und Deutschsprachigen. Während bis heute viele Arbeiten zu Triest immer noch auf eine bestimmte ethnische Gruppe beschränkt bleiben, liegt die Stärke und Besonderheit der vorliegenden Studie gerade in der Analyse Triests als urbaner und gleichzeitig multiethnischer gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die Untersuchungszeit war geprägt durch verstärkte Nationalisierungsprozesse, die sich etwa in der zunehmenden Ethnisierung von Identitäten widerspiegelte. Gleichzeitig konnte Triest zu diesem Zeitpunkt als Beispiel für eine integrative multiethnische Stadt dienen.

Sabine Rutar untersucht in ihrem Buch die kulturelle Praxis der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Triest von 1888 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Da sie nicht die politische und gewerkschaftliche Geschichte der Triester Sozialdemokratie, sondern ihre kulturellen Ausdrucksformen analysieren möchte, stehen im Mittelpunkt der Arbeit die unterschiedlichen Arbeitervereine (Bildungs-, Gesangs-, Theater-, Frauen- und Jugendvereine). Anhand einer „mikrokosmischen Illustration“ (34) ist es das Ziel Rutars, eine „Geschichte der kulturellen und künstlerischen Artikulationen, der Mentalitäten, Symbole, Rituale, Erinnerungen und Zukunftsträume eines bestimmten Sozialmilieus“ zu rekonstruieren (16). Rutar verfolgt einen sozial- sowie kulturgeschichtlichen Ansatz und baut methodologisch auf den Studien zur kulturellen Praxis der deutschen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg von Vernon Lidtke(1) sowie der französischen und deutschen Arbeitermusikmilieus zwischen 1840 und 1980 von Axel Körner(2) auf. Diesen Ansatz überträgt sie auf den „multinationalen urbanen Mikrokosmos“ (17) Triests und rückt hier das Verhältnis von Akteur und Struktur in den Vordergrund, ausgehend von der Prämisse, dass „kollektive Strukturen letztlich nur durch die Individuen existieren, die diese artikulieren“ (200). Die Besonderheit der Triester Arbeiterbewegung spiegelt sich unter anderem darin, dass vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung soziale wie nationale Emanzipationsbestrebungen von Italienern und Slowenen parallel stattgefunden haben. In diesem Sinne greift Rutar auch nationstheoretische Fragestellungen in ihrer Arbeit auf. Sie bricht mit der italienischen und slowenischen Nationalhistoriografie zur Triester Arbeiterbewegung, die bisher meist in ihrem jeweiligen nationalen Bezugsrahmen verhaftet geblieben sind und sich unter Ausblendung des ostmitteleuropäischen Kontextes auf die eigene nationale Gruppe beschränkt haben.(3)

Im ersten Kapitel ihres Buches (Lebenswelten und Milieus) geht Rutar zunächst auf die gesellschaftlichen Bedingungen ein, die Triest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt und die Herausbildung der Arbeiterbewegung bedingt haben. Die Autorin stellt hier die Triester „Bürgertümer“ (17) vor, die für die Entstehung der sozialdemokratischen Kulturarbeit mitbestimmend waren. Italienische Sprache und Kultur waren Teil der bürgerlichen Identität, jedoch zog sich das Großbürgertum aufgrund der verstärkten wirtschaftlichen Anbindung Triests an das Habsburger Reich und ihrer hieraus resultierenden wirtschaftlichen Interessen aus der Politik immer mehr zurück. Demgegenüber wurde das mittlere und Kleinbürgertum von Nationalisierungstendenzen erfasst und fand eine entsprechende Vertretung in der zunehmend nationalistisch auftretenden liberalnationalen Partei. Gleichzeitig begann sich ein slowenisches Bürgertum herauszubilden, das sich zunehmend auch national definierte. Dem Bürgertum stellt Rutar nun die Arbeiter gegenüber, die sich aus den zugewanderten ärmlichen Bevölkerungsschichten rekrutierten und sich anfangs an dem italienischen bürgerlichen Milieu und dessen „bürgerlichen Leitkulturen“ (57) orientierten. Die Mehrheit der Zuwanderer war mit desolaten Wohn- und Arbeitsbedingungen konfrontiert. Eindrücklich schildert Rutar anhand zeitgenössischer Darstellungen wie Land- und Dorfbewohner durch Kleidungswechsel oder Triestinischen Spracherwerb zu Städtern und Arbeitern wurden und wie die aus den ärmlichen Lebensumständen resultierende „gemeinsam erfahrene Misere“ (89) eine kollektive Identität stiftete.

Die Bildungsarbeit der verschiedensprachigen Arbeitervereine untersucht Rutar anhand der Analyse bildungsemanzipatorischer und körpererzieherischer Initiativen sowie einer eigenen Arbeiterfestkultur (Musik, Theater, Poesie, Allegorien) im zweiten Kapitel (Gestaltung und Inszenierung kultureller Praxis), womit der eigentliche Hauptteil ihres Werkes beginnt. Ihr gelingt es überzeugend die identitätsstiftende Funktion sowohl der italienischen- als auch der slowenischsprachigen Vereinsarbeit – und in diesem Rahmen auch die Rolle von Zeitungen, Bibliotheken, Lesesälen sowie Bildungsausflügen – für die Arbeiter mit zahlreichen anschaulichen Quellenzitaten herauszuarbeiten. Wie bereits im ersten Kapitel die Orientierung am bürgerlichen Milieu thematisiert wurde, findet sich auch hier die teilweise Übernahme „bürgerlicher Leitkulturen“, die jedoch entsprechend adaptiert wurden. Aufgrund des multiethnischen Charakters von Triest wirkten aber „zwei bürgerliche Kulturformen“, die sich in der restlichen Stadt „wegen nationaler Animositäten ausschlossen“ (138). Besonders gelungen sind die Unterkapitel zur Entwicklung der städtischen Öffentlichkeit, der Bedeutung des Ersten Mai sowie zur Konstruktion kollektiver Erinnerung, die jeweils zu der Konstituierung einer sozialdemokratischen Identität beitrugen. Öffentlichkeit definiert Rutar als eine „zentrale Artikulations- und Kommunikationsinstanz sozialer und politischer Handlungen und Konflikte“ (168). Ausgehend von den unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen macht sie jedoch verschiedene „Teilöffentlichkeiten“ (168) fest, die sich nur in eingeschränktem Maße überschnitten, doch durch die gemeinsam genutzten Orte und Strukturen dennoch „eine kleine multinationale Vereinsöffentlichkeit“ (170) darstellten. Aufschlussreich ist in diesem Rahmen die Analyse der Bedeutung des Ersten Mai und der Maifeiern, die eine herausragende Rolle in der „Besetzung und Eroberung des städtischen öffentlichen Raumes“ (175) besaßen. Auch hier lässt sich durch die Demonstration eines Internationalismus, der sich etwa durch dreisprachige Ansprachen, gemischtsprachige Konzertprogramme oder gemeinsame Umzüge äußerte, eine übernationale sozialdemokratische Arbeiteridentität festmachen. Einheitsstiftend wirkte auch die Symbolik, deren wichtigstes Element die Farbe Rot bildete.

Besonders eindrucksvoll ist das Kapitel „Konstruktionen kollektiver Erinnerung“. Rutar greift hier eine ihrer Leitfragen auf, wie nämlich bürgerliche und nationale Formen kollektiver Erinnerung in das sozialdemokratische Milieu übernommen und umgeformt wurden und eine gemeinsame sozialdemokratische Identität stifteten. Überzeugend argumentiert sie, wie zwischen „richtiger“ und „falscher“ bürgerlicher Erinnerung unterschieden und nur jene Teile der bürgerlichen Kultur übernommen wurden, die mit den sozialistischen Werten vereinbar waren. Zentrale Bedeutung kam hier der Erinnerung an den Generalstreik von Hafenarbeitern im Februar 1902 zu, bei dem mehrere Demonstranten von der Polizei getötet worden waren. Bereits einige Monate später wurden die Ereignisse mythologisiert und die Toten als Märtyrer religiös-rituell erinnert.

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach sozialen und nationalen Identitätskonstruktionen ist Thema der folgenden beiden Kapitel des Hauptteiles, die Rutar jedoch nicht losgelöst voneinander, sondern „als Einheit zu begreifen“ (18) sucht. Sie beeindruckt im Kapitel „Soziale Identitäten: Inklusions- und Exklusionsprozesse“ zunächst mit der Erstellung des Sozialprofils von etwa 1 200 in der Arbeiterbewegung zwischen 1888 und 1914 beteiligten Personen (darunter 1 034 Männer) anhand einer persönlichen Datenbank mit biografischen Angaben wie Alter, Herkunftsort, berufliche Tätigkeiten, Mitgliedschaften und Aktivitäten in Vereinen, wodurch das Sozialmilieu deutlich wird. Anhand der Analyse von Mehrfachmitgliedschaften in verschiedenen Vereinen, Querverbindungen zur politischen Arbeiterbewegung sowie der familiären Verbindungen zwischen den Aktivisten veranschaulicht sie die Konstituierung einer Arbeiteridentität sowie einer „alternativen Kultur“ (252), in der die Arbeit als identitätsstiftend wirkte. Rutar definiert die sozialdemokratische Bewegung als eine männliche, weist jedoch auch auf die frauenemanzipatorischen Aspekte sowie die nicht unbedeutende Rolle der Frauen in der Arbeiterbewegung hin, sie betont aber gleichzeitig, dass die Rolle der Frauen beschränkt blieb auf die der Ehefrauen und Mütter. Eine Frauenbewegung über Klassenunterschiede oder ethnonationalen Gruppen hinweg entwickelte sich nicht.

Weitere Aspekte ihrer Analyse sind die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen, die als Teil des proletarischen Elends thematisiert wurden und verbessert werden sollten. Der Konstituierung sozialer Identitäten und innerhalb dieser einer spezifischen sozialdemokratischen Arbeiteridentität wirkten jedoch die Nationalisierungsprozesse in verstärktem Maße nach dem Wahlsieg der Sozialdemokraten 1907 entgegen. Die Auseinandersetzung und Abgrenzung der italienisch- sowie slowenischsprachigen Arbeiter und Sozialdemokraten gegenüber ihren gleichsprachigen, jedoch im nationalen Diskurs der Zeit agierenden Konnationalen bildet eine der Leitfragen des Buches.

In dem Kapitel „Nationale Identitäten: Von Triestern, Italienern, Slowenen, Jugoslawen, Österreichern, von Schnittmengen und von Grenzgängern“ überzeugt Rutar mit ihrer Analyse Triests als „komplexer Realität“ (299), die sich nur schwer in klar trennbare nationale Dichotomien trennen lasse. Hier hebt sie die Besonderheit der Triester Entwicklung hervor, die die Gleichzeitigkeit von sozialen und nationalen Emanzipationsbestrebungen aufweise und die deshalb in Wechselwirkung zueinander zu betrachten seien. Innerhalb der italienischsprachigen Sozialdemokraten streicht sie die Trennung von einem politisch-ökonomischen (zur Habsburger Monarchie gehörig) und einem kulturelle Nationsbegriff (zu Italien gehörig) heraus. Sie grenzten sich entschieden von dem nationalen Milieu ihrer Landsleute, die sich in der nationalliberalen Partei sammelten, ab; genauso wandten sich auch die slowenischen Sozialdemokraten gegen die Nationalisierung innerhalb von Teilen der slowenischen Bevölkerung. So bildeten sich Selbstbilder und Bilder vom Anderen bei den Slowenen in Abgrenzung zu den slowenischen Nationalisten heraus, während sich letztere gegen die Reichsitaliener und die italienischsprachigen Gruppen in Triest gegen die Slawen allgemein entwickelten.

Sehr interessant sind Rutars Kapitel „Fließende Identitäten“ sowie „Multinationale Praxis“, in denen sie hybride Identitäten und „Grenzgänger, die in verschiedenen linguistischen Milieus agierten“ (334), herausarbeitet. Die interethnische Solidarität diente nicht zuletzt auch der Demarkation zum Klassengegner. Letztendlich gelang es der Triester Arbeiterbewegung jedoch nicht, eine gemeinsame Kommunikationsbasis zwischen den verschiedenen ethnonationalen Gruppen zu schaffen, worin sich die allgemeine Tragödie der österreichisch-ungarischen Sozialdemokratie widerspiegelt.

Sabine Rutar bietet mit ihrer Studie einen lebendigen Einblick in die Lebenswelten und Identitäten der Arbeiter sowie die sozialdemokratische Bewegung in Abgrenzung zu bürgerlichen kulturellen Praxis im Triest der Jahrhundertwende. Deutlich wird die Breite und Komplexität der Triester Arbeiterbewegung, die zum einen in engem Kontakt zu zwei bürgerlichen Kulturen stand und Elemente derselben adaptierte, sich gleichzeitig mit der zunehmenden Nationalisierung großer Bevölkerungsgruppen konfrontiert sah. Rutar überzeugt mit ihrer Quellenkenntnis, deren Basis die Vereine betreffenden Akten der Polizeidirektion und der Statthalterei im Triester Staatsarchiv sowie zeitgenössische sozialdemokratische Zeitungen, Liedtexte sowie autobiografische und weitere zeitgenössische Darstellungen bilden. Mit ihrer Arbeit leistet Sabine Rutar einen wichtigen Beitrag sowohl zur kulturhistorisch Analyse der Arbeitergeschichte als auch zur Nationalismusforschung auf der multiethnischen Mikroebene vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Urbanisierung. Es bleibt zu hoffen, dass ihr methologischer Ansatz auch für die Analyse anderer mittel- und südosteuropäischer Städte anregend wirkt.

 

Rezensiert von Eva Frantz (Wien)

Email: eva.frantz@univie.ac.at

 

(1) Vernon Lidtke: The Alternative Culture. Socialist Labour in Imperial Germany. Oxford 1985.

(2) Axel Körner: Das Lied von einer anderen Welt. Kulturelle Praxis im französischen und deutschen Arbeitermilieu 1840-1890. Frankfurt am Main/New York 1997.

(3) Eine Ausnahme bilden hier die Arbeiten von Marina Cattaruzza: Socialismo adriatico. La socialdemocrazia di lingua italiana nei territori costieri della Monarchia asburgica. 1888-1915. Manduria, Bari, Roma 1998. Dies.: Italiener und Slovenen in Triest 1850-1914. In: Alpen-Adria-Städte im nationalen Differenzierungsprozeß. Hgg. Andreas Moritsch/Harald Krahwinkler. Klagenfurt, Ljubljana, Wien 1997.

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