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Rezension 43

Rezension Nummer 43 vom 02.05.2006

 

Hannes Grandits, Karl Kaser (Hg.): Birnbaum der Tränen. Lebensgeschichtliche Erzählungen aus dem alten Jugoslawien (Damit es nicht verloren geht..., Bd. 51). Wien u.a.: Böhlau-Verlag, 2003, ISBN 3-205-99230-X; 231 Seiten, Euro 24,90.-

 

Rezensiert von: Malte Fuhrmann (Istanbul)

 

Die Geschichte im Allgemeinen und ganz besonders die südosteuropäische Geschichte haben sich in den letzten Jahren verstärkt von ihrem traditionellen Quellenmaterial ab- und anderen Tradierungsformen zugewandt. Das Interesse liegt zunehmend darin, die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Prozessen nicht nur durch die schmalen Eliten, die Akten oder Literatur produzieren, zu rekonstruieren, sondern auch diejenigen zu erfassen, die hierin nicht zu Wort kommen. Einer der Hauptnachteile von oral history ist jedoch die biologisch bedingte Kürze ihrer Reichweite: Sogar für den Anfang des 20. Jahrhunderts lassen sich heutzutage nur noch wenige Informant/inn/en finden und diese haben bestenfalls die damaligen Ereignisse und Verhältnisse als Kinder miterlebt. Umfassende Sammlungen mündlicher oder nicht veröffentlichter Aussagen sind selten, und ihre Verfügbarkeit noch seltener.

Aus diesem Grund kommt dem von Hannes Grandits und Karl Kaser herausgegebenen Band Birnbaum der Tränen eine besondere Bedeutung zu. Auf über 200 Seiten wird eine Auswahl von lebensgeschichtlichen Erzählungen aus der Halpern Collection der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte der Universität Graz, welcher beide Autoren angehören, präsentiert. Die Halpern Collection umfasst neben demographischem Material und zahlreichen autobiographischen Texten über 1.000 transkribierte Interviews aus Jugoslawien, die größtenteils 1961/1962 zusammengestellt wurden.

Die Herausgeber der jetzt veröffentlichten Auswahl und Joel M. Halpern selber reflektieren die seinerzeit vergleichsweise üppig geförderte amerikanisch-jugoslawische Wissenschaftskooperation zur kulturanthropologischen Erforschung der jugoslawischen Dörfer, der Halpern in den 1950er und 1960er Jahren angehörte. Das Forschungsprojekt Halperns war also ein mittelbares Produkt der Kalten-Kriegs-Politik der Vereinigten Staaten; die akademische Kooperation selber sei jedoch ethisch korrekt verlaufen.

Der Band zielt auf ein breites, auch nicht wissenschaftliches Publikum, und insbesondere das ausführliche Glossar sorgt dafür, dass auch Personen, die über keine ethnologischen Spezialkenntnisse bezüglich der Region verfügen, den Erzählungen folgen können. Leider haben die Herausgeber es unterlassen, auf weiterführende Literatur hinzuweisen, obwohl diese auch bei einem breiteren Publikum auf Interesse stoßen könnte. Des Weiteren haben sich einige Fehler im Skript und in den Karten eingeschlichen, die teilweise für Verwirrung sorgen.(1)

Die meisten der für diesen Band ausgewählten Texte gehen auf transkribierte (und teilweise bearbeitete) Interviews zurück; einige bestehen aus schriftlichen autobiographischen Reflektionen, die seinerzeit auf Aufforderung der Anthropologen verfasst wurden. Aus dem Rahmen fallen die zwei Beiträge eines Serben aus der Vojvodina (eine Familiengeschichte und ein autobiographischer Text): Sie wurden ursprünglich nicht für Halpern geschrieben und machen mit 70 Seiten gut ein Drittel des Bandes aus.

Ein Blick in die 17 von Hannes Grandits ins Deutsche übersetzten Quellen bestätigt die Reichhaltigkeit des Materials. Die Erzählungen stammen aus allen Teilrepubliken Jugoslawiens, und ihr zeitlicher Horizont geht weit über den im Untertitel angegebenen zeitlichen Rahmen (das erste Jugoslawien, also 1918-1941) zurück: Da viele der erzählenden Personen 1962 bereits hoch betagt waren, hatten sie noch lebhafte Erinnerungen an das späte 19. Jahrhundert, also an das Leben in Österreich-Ungarn, im Königreich Serbien, im Fürstentum Montenegro oder im Osmanischen Reich. Themen wie materielle Lebensumstände, Veränderungen in Arbeitsprozessen samt ihren sozialen Auswirkungen, Feiertagsbräuche, Verwandtschaftsverhältnisse, Heiratsstrategien, sowie Kindheit und Jugend werden von fast allen Berichten angesprochen. In besonderem Maße bieten die Erzählungen Stoff für die Untersuchung von Migrationen (allerdings natürlich nur von Personen, die sich nicht dauerhaft außerhalb Jugoslawiens niedergelassen haben): ob bei der Suche nach dem großen Geld in Amerika, als Soldat nach Tripolis evakuiert, beim Studium in Wien, auf der innerjugoslawischen Arbeitsuche oder als traditioneller Wanderarbeiter – die Texte zeigen, wie vielfältig die Bewohner vermeintlich unberührter Dörfer die Welt erlebten. Ein weiteres sich durchziehendes Thema sind das Erleben der Kriege des 20. Jahrhunderts und teilweise illegale Parteiaktivitäten vor 1941 oder die Unterstützung der Partisanen.

Dennoch lässt sich zugleich eine Negativliste formulieren von Bereichen, die hier nicht angeschnitten werden. Auffallend ist zunächst, dass nur zwei der 17 Texte von Frauen stammen, und diese leider eher kursorisch durch ihre Lebensgeschichten springen. Ob dies der Auswahl der Herausgeber oder bereits der Interviewer geschuldet ist, bleibt unklar. Desgleichen stammt nur einer der Beiträge von einem Angehörigen einer ethnischen Minderheit (ein Albaner aus Makedonien) und keiner aus dem Kosovo, aus dem die gesamte Halpern-Sammlung keine Texte aufweist. Schließlich konzentrieren sich die Texte fast ausschließlich auf Dorfbewohner; der erwähnte serbische Bewohner der Vojvodina ist der Einzige, der eine städtische Sozialisation aufweist (und nebenbei der Einzige, der seine Vita in eine nationale Narrative einbettet). Diese drei Defizite sind vermutlich dem Zeitgeist der frühen sechziger Jahre geschuldet, als Anthropologen sich für solche Fragen weniger interessierten.

Es bleibt festzuhalten, dass der Band 17 überwiegend aussagekräftige und durchaus kontrastreiche Ausschnitte aus Lebenswelten in Jugoslawien von 1962 bis zurück ins 19. Jahrhundert umfasst und das Interesse an einer Quellensammlung erweckt, die für mehrere Themenbereiche eine ertragreiche Forschung zu ermöglichen scheint.

 

(1) Beispielsweise S. 111 unten: Das hier angeführte Jahr 1935 müsste durch ein ca. 100 Jahre früheres Datum ersetzt werden.

 

 

Rezensiert von Malte Fuhrmann

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