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Rezension 39

Rezension Nummer 39 vom 03.04.2006

 

Wolfgang Petritsch /Robert Pichler: Kosovo-Kosova. Der lange Weg zum Frieden. Mit einem Beitrag von Martin Prochazka und internationalen Lösungsvorschlägen. 2. erweiterte und aktualisierte Auflage. Klagenfurt/Celovec. Wieser-Verlag 2005. ISBN 3851295986. 411 Seiten, Euro 25.-

 

Rezensiert von: Rüdiger Rossig (Berlin)

 

 Auch das dritte Kosovo-Buch von Wolfgang Petritsch und Robert Pichler ist eher ein Sammelband als eine zusammenhängende Arbeit. Insofern setzt „Kosovo-Kosova. Der lange Weg zum Frieden“ die Machart der bisherigen zwei Produktionen des Autorenduos konsequent fort. Für (angehende) Südosteuropa-Regionalwissenschaftler und andere am Thema interessierte Leserinnen und Leser mindert das nicht die Notwendigkeit, das Paperback zu lesen. Im Gegenteil: Die 400 Seiten lohnen schon aufgrund der vielen Originaldokumente. Unter anderem finden sich das Jelzin-Milošević-Abkommen, das Holbroke-Milošević-Abkommen, der Entwurf zu einem albanisch-serbischen Abkommen von Rambouillet – alle im Englischen Original abgedruckt – und zahlreiche Schriftstücke aus dem Archiv Petritschs. Vor allem aber ist „Kosovo-Kosova“ aufgrund des diplomatisch-politischen bzw. akademischen Hintergrunds der Autoren ein Muss: Wolfgang Petritsch ist österreichischer Botschafter bei der UNO in Genf und war zuvor Wiens Vertreter in Belgrad, EU-Chefdiplomat in den Kosovo-Friedensgesprächen und Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina. Robert Pichler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte an der Universität in Graz und Mitglied des Centre for the Study of Balkan Society and Cultures (CSBSC). An einer Publikation zweier solcher Schwergewichte kommt der Fachmensch nicht vorbei. Ob er nun will oder nicht.

Normalsterblichen dagegen, die sich bei ihrem Weg durch die Geschichte des Kosovo-Konfliktes ein wenig Anleitung wünschen, muss von der Anschaffung des dritten Buchs von Petritisch und Pichler abgeraten werden. Die Autoren präsentieren über weite Strecken von „Der lange Weg zum Frieden“ vor allem Altbekanntes – und viele, viele Details. Diese sind für Regionalspezialisten ein Grund, „Kosovo-Kosova“ intensiv und gegebenenfalls auch mehrmals zu konsultieren; LeserInnen aber, die sich „nur“ Einblick in den Konflikt um das Amselfeld verschaffen wollen, werden ihre Not haben, auch nur den Hauch eines roten Fadens zu finden. Wer angesichts des chronologisch gegliederten Inhaltsverzeichnisses im Textverlauf Stringenz erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen ist „Kosovo-Kosova“ voll von zeitlichen Sprüngen, Wiederholungen, Querverbindungen und unvermittelt auftauchenden Reflexionen der Autoren zu verschiedenen Ereignissen und Problemfeldern. All dies ist in Anbetracht der Komplexität des Themas und der Vielzahl der Geschehnisse und Akteure – der albanischen und serbischen Parteien und Institutionen sowie der verschiedenen internationalen Spieler – durchaus verständlich. Aber ein bisschen mehr Konzept und viel mehr redaktionelle Sorgfalt hätten dem Werk nichtsdestotrotz durchaus gut getan.

Für alle potenziellen Buchkonsumenten gleichmäßig ärgerlich ist, dass man trotz der zahlreichen reflektierenden Textabschnitte Einschätzungen und Meinungsäußerungen der Autoren mit der Lupe suchen muss. Das gilt vor allem für Kritik an der internationalen Politik in Ex-Jugoslawien im Allgemeinen und in Kosovo im Speziellen. Dabei liegt auf der Hand, dass ein Kosovo-Buch aus der Feder eines hohen Diplomaten, der selbst aktiv und in mehreren Positionen am Konflikt um die bis heute nominell serbische Provinz beteiligt war und ist, nicht nur unter anderem, sondern vor allem deshalb gelesen wird, weil dessen Meinung interessiert. Das gleiche gilt – wenn auch vermindert – für den Wissenschaftler Pichler. Es stört nicht nur, wenn die Autoren von „Kosovo-Kosova“ immer wieder andeuten, dass sie die eine oder andere taktische, strategische oder politische Wendung in der Politik der einen oder anderen oder dritten Seite bedauerlich oder vielleicht auch nicht ganz richtig finden; es nimmt dem Buch auch unnötigerweise Gewicht.

Dabei machen Petritsch und Pichler bereits in der Einleitung zur 2. Auflage von „Der lange Weg zum Frieden“ durchaus klar, wo sie die Hauptfehler der Politik der internationalen Gemeinschaft im Konflikt um das Kosovo sehen: Die langjährige Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Kosovo-Albaner, die Ausklammerung der Kosovo-Frage aus den Bosnien-Friedensverhandlungen in Dayton 1995, die Anerkennung Rumpf-Jugoslawiens durch die EU ohne Rücksicht auf die Verhältnisse in der Krisenprovinz, das uneinheitliche Agieren der internationalen Akteure sowie das Fehlen eines langfristigen Konzepts haben das internationale Krisenmanagement ineffektiv gemacht – und diese Ineffektivität der Diplomatie führte dazu, dass „jene Akteure in den Mittelpunkt des Geschehens rückten und das Handeln diktierten, für die Gewalt als Mittel der Konfliktlösung an vorderster Stelle stand“ (S. 13).

Das ist schön, gut und richtig – aber nicht gerade neu. Und genau das gilt auch für den Rest des Buches inklusive der 17 Seiten „Persönliche Reflexionen“ von Wolfgang Petritsch, mit denen die zweite Auflage abgeschlossen wird. Selbst hier wartet der Ex-Chefunterhändler der EU nicht mit mehr Interna oder (Selbst-)Kritik auf als in den vorangegangenen Kapiteln. Bestenfalls wird angedeutet, dass etwas nicht geklappt hat, wie es sollte. Überlegungen zu anderen, alternativen Vorgehensweisen werden weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft angestrengt. Insofern ist „Kosovo-Kosova. Der lange Weg zum Frieden“ ein getreues Abbild der düsteren Realität im Kosovo: Alles ist Ethno, alles muss zwischen Albanern und Serben ausgehandelt werden. Langfristige Lösungsansätze für den Konflikt zwischen der albanischen Mehrheitsbevölkerung bzw. deren Organisationen und Institutionen und der serbischen Minderheit und dem serbischen Staat werden – wie in der kosovarischen Realität – auch bei Petritsch und Pichler nicht einmal andiskutiert.

Das gilt auch für die in fetten Lettern auf dem Einband des Buches angekündigten „internationalen Lösungsvorschläge“. Das Statusmodell der „Hellenic Foundation for European und Foreign Policy“ (ELIAMEP), das Konzept der „International Commission on the Balkans“ und der „Vorschlag der International Crisis Group“ (ICG) entpuppen sich nicht erst bei genauerem Hinsehen als Variationen auf die immergleiche nationalen Frage: Ist die Provinz albanisch oder serbisch? Zudem wird nicht mal ansatzweise erklärt, geschweige denn problematisiert, wer sich hinter diesen Organisationen verbirgt. Sind ELIAMEP, die International Commission und ICG unabhängige Think-Tanks, staatliche oder halb-staatliche Institutionen? Welchen Hintergrund haben die Gründer, Betreiber und Mitarbeiter? Welche Interessen könnten sie vertreten? Petritsch und Pichler verraten es nicht.

Auch die anderen im Buch genannten Beteiligten am Kosovo-Konflikt bleiben merkwürdig gesichtslos. Dabei wissen selbst Menschen, die sich „nur“ per Tageszeitung über die Kriege um Ex-Jugoslawien informiert haben, dass die Kontaktgruppe dort eine große Rolle gespielt hat. Dass sie aus Vertretern der USA, Russlands, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands bestand, steht auf . Interessant und dem Profil der Autoren von „Kosovo-Kosova“ angemessen wäre gewesen (zumal von Petritsch) zu erfahren, wer genau in der Kontaktgruppe an welcher Stelle wie oft und in welcher Form mitgearbeitet hat. Wie funktionierte diese Einrichtung abseits der Ministertreffen? War sie ein Stab von Bürokraten oder ein kreativer Verein voller regionalwissenschaftlich geschulter Köpfe, die mit vielen Mitteln ausgestattet agieren konnte? Leider beantwortet der ehemalige EU-Chefunterhändler keine dieser Fragen auch nur ansatzweise.

Petritsch und Pichlers dritte Buch steht genau da, wo auch die Verhandlungen über den zukünftigen völkerrechtlichen Status des UN-Protektorats stehen: in der „Ethno-Falle“ (Norbert Mappes-Niediek) – und Petritsch und Pichler wissen das. Doch Petritsch und Pichler sprechen weder die kosovarische Zivilgesellschaft an – noch die sozialen Räume, in denen diese vorhanden sein könnte. Kulturelle Aktivitäten, Vereinigungen und Zusammenhänge kommen nicht vor. Die Autoren erwähnen zwar immer wieder die wirtschaftliche Situation in der Provinz – doch statt diesen Themenkomplex argumentativ und kritisch anzugehen, wird der Faden nie weitergesponnen, von Zukunftsaussichten, Perspektiven und Szenarien ganz zu schweigen. Wenig und vor allem nichts Neues bietet „Kosovo-Kosova“ auch zur Rolle der mehrfach genannten „kriminellen Elemente“ auf beiden am Konflikt beteiligten Seiten. Die besonderen Probleme von weder der albanischen Mehrheit noch der serbischen Minderheit angehörigen Gruppen, wie der Roma und Ashkali, fehlen. Begriffe werden nicht erklärt, etwa der angeblich typisch balkanische „inat“ (dt. Trotz), den die Autoren immerhin für handlungsmotivierend für keinen geringeren als den serbisch-jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milošević halten. Der angebliche „Hufeisenplan“ der jugoslawischen Armee zur Umzingelung der albanischen Kosovo-Befreiungsarmee UCK, der während und nach dem Kosovo-Krieg für einige Furore sorgte und in zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen mündete, fehlt im „Langen Weg zum Frieden“ gar völlig. Die Autoren kündigen zwar an, nun würde den zahlreichen Verschwörungstheorien zum Thema eine Abfuhr erteilt – aber dann wird nur der österreichische Schriftsteller Peter Handke und dessen Engagement für die serbische Seite erwähnt. Völlig armselig kommt die schlechte Schwarz-Weiß-Kopie einer Karte des Kosovos daher, die auf Seite 9 des Buches eingeklebt wurde. Zudem beginnt eine Stichwortregister spätestens nach Seite 100 sehr lückenhaft zu werden.

Vielleicht am schwersten aber wiegt, dass „Kosovo-Kosova“ über weite Strecken einfach langweilt. Sicher, Petritsch und Pichler kündigen bereits in der Einleitung an, dass sie sich nicht an der grundsätzlichen Debatte über die politischen und völkerrechtlichen Folgen des Nato-Angriffs auf Jugoslawien beteiligen wollen. Ihr Ziel sei vielmehr, die „Ereignisse zu rekonstruieren und auszuwerten, die zum Scheitern einer diplomatischen Lösung“ des Konfliktes beigetragen haben, und „die Vorgehensweise der internationalen Gemeinschaft vor dem Hintergrund des Konfliktverlaufs“ zu beleuchten. Insofern kann man weder den Autoren noch dem Verlag vorwerfen, sie hätten mehr versprochen als gehalten.

Immerhin: Im Vergleich zu den bisherigen zwei Kosovo-Publikationen von Petritsch und Pichler ist die Neuauflage von „Der lange Weg zum Frieden“ ein Fortschritt. Den Erstling der beiden Autoren, „Kosovo/Kosova. Mythen, Daten, Fakten“ (Wieser 2000), zu dem der Historiker Karl Kaser einen Beitrag über die Geschichte des Kosovos von 1285 bis 1997 beigetragen hat, bezeichnete ein Rezensent richtigerweise als Zettelkasten. Gemessen daran war bereits die 2004 erschienene erste Auflage von „Kosovo-Kosova. Der lange Weg zum Frieden“ richtig gut aufgearbeitet: Eine Struktur war erkennbar, zudem verzichteten die Autoren auf einen Beitrag zur Geschichte des Kosovo vor der Bildung der heutigen Balkanstaaten. Wo nötig, wird auf die Literaturhinweise hinten im Buch verwiesen, wo auch Kaser mehrfach erwähnt wird. Ansonsten behandelt die erste Auflage des Kosovo-Buches der beiden Autoren die Entwicklung der Region seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts – also den Zeitraum, in dem der aktuelle Konflikt auch wirklich spielt – und lässt die ja nur angeblich Jahrhunderte alte Erbfeindschaft zwischen Albanern und Serben außen vor zu lassen. Statt eines Aufsatzes über Mittelalter und osmanische Zeit, der letztendlich nur ein paar Jahreszahlen referiert und ansonst nationalistische Mythen reproduziert hätte, wird auf 50 Seiten die Entwicklung Kosovos seit der serbischen Besetzung 1912/13 erläutert. Der Hauptteil der Arbeit behandelt den albanisch-serbischen Konflikt seit Machtantritt Milosevićs und dem Beginn der Jugoslawien-Kriege 1991/92. Der Schwerpunkt liegt auf der Periode zwischen Februar 1998 und März 1999, also der militärischen Eskalation in Kosovo dank der Kosovo-Befreiungsarmee UCK und den serbischen Militär- und Polizeikräften bis zum Scheitern der Konferenz von Rambouillet, an die sich eine zusammenfassende analytische Beschreibung der Politik der internationalen Gemeinschaft vor Ausbruch des Krieges anschließt.

Hinzu kommt eine neunzigseitige Arbeit von Martin Prochazka, Mitarbeiter an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Der Beitrag ist der interessanteste des ganzen Buches. Souverän zeichnet der Autor die Ereignisse vom Beginn der Luftangriffe der Nato bis zum „Vorabend der Statusverhandlungen“ im vergangenen Jahr nach. Der Text ist klar strukturiert und folgt dem zeitlichen Ablauf. Auf überflüssige Details wird verzichtet. Nach der Lektüre bleiben keine Fragen offen.

Die Bilanz der zweiten Auflage von „Kosovo-Kosova“ bleibt sehr gemischt. Positiv schlagen neben dem eben genannte Beitrag von Martin Prochazka die vielen Details zu Buche, die vor allem Wolfgang Petritsch eher am Rande erwähnt. Hinzu kommen die anfangs genannten Originaldokumente. Für einen negativen Bei- und Nachgeschmack sorgt das konzeptionell-redaktionelle Chaos, das Fehlen von klar (be-)greifbaren kritischen Einschätzungen und Bewertungen durch die Autoren sowie von Politikansätzen, die über das reine peace-keeping hinausgehen. Besonders an dieser Stelle bleibt das „Der lange Weg zum Frieden“ so appellativ wie die Balkan-Politik der vergangenen 15 Jahre. Das gipfelt in Sätzen wie diesem: „Die gesamten zur Verfügung stehenden politischen Erkenntnisse und historischen Erfahrungen gebührend zu berücksichtigen, wird im Ringen um eine gerechte Lösung im Sinne aller Betroffenen (...) von entscheidender Bedeutung sein.“ Wer solches schreibt gesteht ein: Wir kennen das Problem ziemlich genau. Aber wir kriegen es nicht in den Griff.

 

Rezensiert von Rüdiger Rossig (Berlin) 

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