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Rezension 38

Rezension Nummer 38 vom 03.03.2006

 

Sevasti Trubeta/Christian Voss (Hg.): Minorities in Greece – Historical Issues and New Perspectives (= Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas, 5). München: SLAVICA Verlag Dr. Anton Kovač, 2003. 219 S., ISSN 1617-5581.

 

Rezensiert von: Adamantios Skordos (Leipzig)

 

Nach dem Scheitern der Nichtanerkennungspolitik gegenüber der benachbarten Republik Makedonien begann man auch in Griechenland die fatalen Auswirkungen der jahrelangen Tabuisierung von Minderheitenfragen zu erkennen. Insbesondere die Lockerung der staatlichen Minderheitenpolitik, die seit Mitte der 1990er Jahre den Zugang zu Archivquellen sowie den Kontakt mit Minderheitenangehörigen öffnete, und das rasant anwachsende Interesse von einheimischen und ausländischen (Nachwuchs-)Wissenschaftler/inne/n für die Grauzonen griechischen nation-building führten zu neuen methodischen und inhaltlichen Ansätzen in der griechischen Minderheitenforschung.

Innerhalb dieses Rahmens ist auch eine von Sevasti Trubeta und Christian Voss Anfang 2003 in Berlin durchgeführte Tagung zum Thema „Minorities in Greece – Historical Issues and New Perspectives“ einzuordnen.(1) In mehrerlei Hinsicht stellt der aus dieser Tagung hervorgegangene Themenband einen Meilenstein in der griechischen Minderheitenforschung dar: Das Sammelwerk ist nicht nur die bis jetzt am breitesten interdisziplinär angelegte Arbeit – sie umfasst Beiträge aus den Bereichen der Geschichtswissenschaft, der Bildungssoziologie, der Sozialanthropologie, der Rechtswissenschaften und der Soziolinguistik - , sondern auch eine der wenigen Unternehmungen, bei der griechische sowie ausländische Wissenschaftler zusammengewirkt haben. Zugleich kombiniert der Band erstmals Forschungen zu „alten“ bzw. autochthonen nationalen Minderheiten mit solchen zu „neuen“, wie sie durch den Fall der kommunistischen Regime Osteuropas und die massenhafte Arbeitsimmigration entstanden sind. Hervorzuheben ist überdies die Absicht der Herausgeber, die griechische Minderheitenfrage sowohl in einen balkanischen Kontext zu stellen als auch den dynamischen Prozess von Ethnisierung und Minorisierung in Griechenland unter theoretischen Konzepten der Minderheitenforschung zu betrachten.

Die letzte Absicht ist der erste Teil „Minorities in the Balkan Context” der insgesamt fünf Themenblöcke des Sammelwerkes gewidmet. Der Beitrag von Peter Haslinger „Minorities and Territories – Ways to Conceptualize Identification and Group Cohesion in Greece and in the Balkans” (S. 15-26) legt die Rolle des Raumes bei der Genesis von Minderheiten auf dem Balkan fest, indem drei verschiedene Konzepte präsentiert und auf südosteuropäische Fallbeispiele übertragen werden: imagined territory, ethnoscapes und triadic nexus.

Der Aufsatz von Christian Promitzer „The Body of the Other: Racial Science and Ethnic Minorities in the Balkans” (S. 27-40) knüpft an den von Haslinger thematisch an. Der Grazer Historiker demonstriert hauptsächlich am serbischen, parziell auch am jugoslawischen, bulgarischen, rumänischen und griechischen Fall, dass die ursprünglich in Westeuropa entwickelte Rassenkunde anfangs des 20. Jahrhunderts von südosteuropäischen Wissenschaftlern übernommen wurde - mit dem Ziel der Erweiterung nationalen Territoriums bzw. des Schutzes vor irredentistischen Absichten der Nachbarstaaten. Obgleich der Holocaust und die Errichtung von kommunistischen Regimen im Prinzip das Ende für rassenanthropologische Studien in Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien bedeuteten, zeigte man sich in Griechenland von den fatalen Folgen, aber auch von der politischen Ineffizienz der Rassenkunde unbeeindruckt und übernahm mit den Anthropologen Aris Poulianos und Nikolaos Xyrotyris diesbezüglich die Führungsrolle auf dem Balkan.

Eine Einführung in die griechische Minderheitenthematik erfolgt im zweiten Themenblock zu „State Politics”. Vemund Aarbakke versucht in seinem Beitrag „Adjusting to the New International Framework for Minority Protection – Challenges for the Greek State and its Minorities” (S. 43-54) durch einen historischen Rückblick auf die Entwicklung von griechischem Nationalismus und Athener Minderheitenpolitik die in den 1990er Jahren aufgekommenen Unstimmigkeiten zwischen Griechenland und der internationalen Gemeinschaft in Sachen Minderheitenschutz zu klären. Aarbakke zufolge waren es hauptsächlich die traumatischen Erfahrungen der griechischen Titularnation mit ihrer nach Eigenstaatlichkeit strebenden makedonischen Minderheit – sei es unter der Ägide Mussolinis, Hitlers oder Titos -, die letztendlich zu einer aus westlicher Perspektive unverständlichen Aversion seitens Staat und Gesellschaft in Griechenland gegen internationale Minderheitenrechtsstandards führten.

Eine spannende Gegenüberstellung von offiziellen, semi-offiziellen und nicht-staatlichen Bevölkerungsstatistiken Griechenlands bietet in seinem Aufsatz „Counting the Other: Official Census and Classified Statistics in Greece (1830-2001)” (S. 55-78) der Publizist und Mitglied der Journalistengruppe Ios Tasos Kostopoulos. Der Verfasser, der sich nicht nur auf freigegebenes, sondern gerade auch auf „streng vertrauliches“ Behördenmaterial beziehen kann, stellt beträchtliche Manipulationen der tatsächlichen Anzahl von Minderheitenangehörigen sowohl in den bis 1951 mit Aussagen zur sprachlichen und religiösen Diversität versehenen offiziellen Statistiken als auch in stark ideologisierten Arbeiten griechischer Wissenschaftler fest.

Der dritte Themenblock des Bandes „Muslims, New and Old Minorities” setzt sich aus vier Beiträgen zusammen, wobei die ersten beiden neben der Berücksichtigung der „autochthonen“ Muslime Westthrakiens ihre Untersuchung von rechtlicher Lage und Religion auf die „neuen“ Minderheiten der Arbeitsimmigranten innovativ ausweiten. Dimitris Christopoulos und Konstantinos Tsitselikis thematisieren in ihrem Aufsatz „Impasses in the Treatment of Minorities and homogeneis in Greece” (S. 81-93) die starke Ideologisierung der griechischen Rechtslandschaft bezüglich Minderheitenfragen. Die Autoren zeigen, wie im 20. Jahrhundert das in der Verfassung verankerte Konzept der homogeneis (Gleichstämmigen) zur Aufrechterhaltung der Beziehungen des Mutterlandes mit der griechischen Diaspora und somit auch zur Begründung territorialer Forderungen Griechenlands eingesetzt wurde. Allerdings stürzte der anfangs der 1990er Jahre erfolgte Massenzustrom von Arbeitsimmigranten aus dem GUS-Bereich sowie von sich mehrheitlich als homogeneis ausgebenden Albanern aus Albanien das Konzept in eine möglicherweise letale Krise.

Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Sevasti Trubeta analysiert in ihrer vergleichenden Untersuchung „Minorisation and Ethnicisation in Greek Society: Comparative Perspectives on Muslim Immigrants and the Thracian Muslim Minority” (S. 95-112) die Rolle der Religion bei dem Minorisierungs- und Ethnisierungsprozess der westthrakischen Muslime einerseits und der muslimischen Arbeitsimmigranten andererseits. Im Falle der autochthonen Muslime Westthrakiens erkennt die Autorin eine Ethnisierung via Religion, wobei die Hervorhebung der religiösen Diversität der betreffenden Gruppe als ein politisches Manöver Athens zur Einschränkung des nationaltürkischen Charakters der Minderheit zu interpretieren ist. Im Gegensatz dazu sieht Trubeta zwischen der politischen, ökonomischen und sozialen Marginalisierung muslimischer Immigranten aus Afrika, Asien und Albanien und ihres nicht griechisch-orthodoxen Glaubensbekenntnisses keinen direkten Zusammenhang.

Der Aufsatz von Giorgos Mavrommatis „Constructing Identities for Thracian Muslim Youth: The Role of Education” (S. 113-123) konzentriert sich auf das durch den Lausanner Vertrag von 1923 institutionalisierte Bildungswesen für die muslimische Minderheit Westthrakiens. Der historische Rückblick auf die Entwicklung des Minderheitenschulsystems macht noch einmal deutlich, dass auch in diesem Bereich die Politik Athens gegenüber seiner einzigen anerkannten Minderheit sich dem konfliktreichen Verhältnis Griechenlands zu Bulgarien und vor allem zur Türkei unterwarf.

Wie soziale Minorisierungsprozesse ethnischer Gruppen mit „alltäglichen“ Problemen ökonomischer Art eng verflochten sein können, demonstriert am Beispiel der albanischsprachigen Muslime des Epirus die Berliner Ethnologin und Südosteuropahistorikerin Georgia Kretsi. Basierend auf der Korrespondenz lokaler Behörden und des griechischen Außenministeriums dokumentiert die Autorin in ihrem Essay „From Landholding to Landlessness. The Relationship between the Property and Legal Status of the Cham Muslim Albanians” (S. 125-138) eine während der Zwischenkriegszeit seitens der griechisch-orthodoxen Mehrheit intensiv vorangetriebene Ideologisierung bzw. Ethnisierung der Çam-Albaner mit dem ausschließlichen Ziel, sie - wenn auch verspätet - in die griechisch-türkische Zwangsumsiedlung einzubeziehen, d. h. auszusiedeln – bei gleichzeitiger Enteignung, um dadurch die Unterbringungsprobleme der kleinasiatischen Griechen zu bewältigen.

Der äußerst kontroverse und infolge des griechisch-makedonischen Namenstreits stark politisierte Fall der Slavophonen bzw. Slavomakedonier bzw. Makedonier des griechischen Makedonien wird im vierten Themenblock in vier hochkarätigen Beiträgen aus geschichtspolitischer (Philip Carabott), anthropologischer (Claudia Rossini), soziolinguistischer (Christian Voss) und sozialhistorischer (Riki van Boeschoten) Perspektive beleuchtet. Carabott befasst sich in seinem Essay „The Politics of Constructing the Ethnic ‘Other’: The Greek State and its Slav-Speaking Citizens, ca. 1912 - ca. 1949” (S. 141-159) mit der griechischen Minderheitenpolitik gegenüber den slawischsprachigen Bürgern Ägäisch-Makedoniens in der kritischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und zwar sowohl auf regionaler als auch auf zentralstaatlicher Ebene. Der Londoner Neuzeithistoriker, der auf umfangreiche Quellenrecherchen in staatlichen und privaten Archiven Griechenlands zurückgreifen kann, dokumentiert bis zur Errichtung der Metaxas-Diktatur (1936) große Unstimmigkeiten zwischen den Athener Regierungen, die sich mit dem „moderaten“ Konzept des Vorhandenseins „slavophoner Griechen“ zufrieden gaben, und den lokalen Behörden, die eine Hardliner-Politik bis zur totalen Hellenisierung und damit Entslawisierung Makedoniens vorantreiben wollten.

In Gegensatz zu Carabotts Artikel, der sich auf die Vergangenheit bezieht, setzen sich die nächsten zwei Beiträge von Rossini und Voss mit der gegenwärtigen Situation der slawischsprachigen Bürger des griechischen Makedonien auseinander. Rossinis Artikel „Graecophiles and Macedonophiles: Greek Macedonia’s Slavic-Speakers, the Minority Identity Question and the Clash of Identities at Village Level” (S. 161-172) geht der Frage nach, was der Kern des derzeitigen Minderheitenkonflikts in Ägäisch-Makedonien ist und welche Identitätskonzeptionen unter den Slavophonen des griechischen Makedonien verbreitet sind: Während ein Teil der Slavophonen eine gegenüber dem griechischen Staat auf sozioökonomischen Grundlagen basierende Loyalität aufweist und dementsprechend jede Minderheitendiskussion kategorisch ablehnt („Graecophiles“), beanspruchen die „Macedonophiles“ das Recht auf Selbstbestimmung, sodass sie ihre besondere regional-makedonische Identität ausleben können.

Christian Voss stellt wiederum in seinem Beitrag „The Situation of the Slavic-Speaking Minority in Greek Macedonia – Ethnic Revival, Cross-Border Cohesion, or language Death?” (S. 173-187) eine Revitalisierung der slawomakedonischen Dialekte im westmakedonischen Griechenland fest.

Der Slawist sorgt allerdings für Überraschung, wenn er die Kodifizierung dieser Dialekte mittels des griechischen Alphabets und der Berücksichtigung bzw. Einbeziehung griechischen Vokabulars vorschlägt. Dies deshalb, weil er ähnliche Versuche im Falle des Pomakischen vorwiegend wegen ihres graekozentrischen Charakters kategorisch ablehnte.(2)

Der Aufsatz der an der Universität Volos lehrenden niederländischen Ethnologin Riki van Boeschoten „Unity and Brotherhood? Macedonian Political Refugees in Eastern Europe” (S. 189-202) behandelt das sowohl von der nationalistischen als auch von der kommunistischen Geschichtsschreibung Griechenlands vernachlässigte Thema der Beziehungen zwischen griechischen und makedonischen Bürgerkriegsflüchtlingen in den Ostblockstaaten. Die Autorin schildert anhand autobiografischer Werke von Exilmakedoniern eine bis 1989 durch die paternalistischen Aufnahmestaaten und die Organe der Kommunistischen Partei Griechenlands ins Detail geregelte entnationalisierte Symbiose der beiden ethnischen Gruppen.

Der abschließende Beitrag von Thede Kahl „Aromanians in Greece: Minority or Vlach-Speaking Greeks” (S. 205-219) im fünften Themenblock skizziert für die Gegenwart eine weitgehende „nationale Identifikation der meisten Aromunen mit dem modernen Hellenismus“ (S. 219) und eine intensive Förderung der aromunischen Folklore bei gleichzeitig starker Abneigung gegen die institutionalisierte Pflege ihrer Sprache und gegen jegliche Minderheitendiskussion.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das in der Einführung gesetzte Ziel der Herausgeber, „durch eine historische, soziologische, sozialanthropologische, rechtswissenschaftliche, geografische und soziolinguistische Perspektive den jetzigen Stand der Minderheitenforschung zu spiegeln und die aktuellen Forschungsergebnisse interdisziplinär zu systematisieren“ (S. 10), zu einem Großteil erreicht wurde. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass dieser Band einen entideologisierten und entpolitisierten Forschungsstand widerspiegelt, wie er in Griechenland mittlerweile zwar an außeruniversitären sowie nicht-staatlichen Forschungseinrichtungen – wie z.B. dem „Forschungszentrum für Minderheitengruppen“ (KEMO) -, nicht hingegen an staatlichen Universitäten und Instituten anzutreffen ist. Die auffällige Unterrepräsentation von Vertretern griechischer Universitäten oder auch andere staatliche Institutionen, so etwa des autoritativen Instituts für Balkan-Studien in Thessaloniki, in diesem Sammelwerk geht mitnichten auf eine selektive Einladungspolitik der Herausgeber zurück, sondern resultiert aus der Tatsache, dass sich die Minderheitenforschung im Griechenland des 21. Jahrhunderts noch keineswegs gegenüber dem traditionellen bzw. nationalistischen Mainstream innerhalb der offiziellen Einrichtungen durchsetzen konnte.

 

Fußnoten:

(1) Siehe dazu Voss, Christian: Tagungsbericht „Minorities in Greece – historical issues and new perspectives”. In: H-Soz-u-Kult vom 19. 02. 2003 (URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=173).

(2) Ioannidou, Alexandra, Voss, Christian: Kodifizierungsversuche des Pomakischen und ihre ethnopolitische Dimension. In: Die Welt der Slaven 46 (2001), S. 233-247.

 

Rezensiert von Adamantios Skordos (Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig)

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