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Rezension 32

Rezension Nummer 32 vom 04.10.2005

 

Oliver Jens Schmitt: Levantiner. Lebenswelten und Identitäten einer ethnokonfessionellen Gruppe im osmanischen Reich im „langen 19. Jahrhundert“, München: Oldenbourg, 2005 (Südosteuropäische Arbeiten 122), 515 S., ISBN 3-486-57713-1, € 64.80.

 

Rezensiert von: Sabine Rutar (Bochum)

 

Der Titel der nun publizierten Habilitationsschrift (Universität Regensburg, 2003) von Oliver Jens Schmitt vereint vier große Konzepte: „Lebenswelten“, „Identitäten“, „ethnokonfessionelle Gruppen“ sowie das „lange 19. Jahrhundert“. Insbesondere die ersten beiden Begriffe schillern in ihrer allzuoft eher unscharfen Breite. Schmitt benutzt sie indes nicht als Deckmantel für eigentliche Konzeptionslosigkeit: Seine Studie ist so schlüssig und kohärent wie sie – kurioserweise gerade deshalb – angreifbar ist. Sie ist von der Anlage her umfassend, gleichzeitig aber eine wirkliche Pionierarbeit, mit allem Vortasten und allen Lücken, die das mit sich bringt. Schmitt ist sich dessen wohl bewusst – er betont immer wieder, seine Arbeit sei Einstieg in eine hoffentlich zukünftig fortgeführte, diversifizierte und sowohl topographisch als auch thematisch vertiefte Untersuchung der ethnokonfessionell definierten Gruppe der Levantiner im Osmanischen Reich. Gleichwohl leistet er weit mehr, als er selbst es im Zuge der Arbeit untertreibend benennt: eine Schneise in den zerstreut liegenden, umfangreichen Quellenstoff geschlagen zu haben und Grundzüge in groben Strichen nachzuzeichnen.

Die Angreifbarkeit beginnt gleich im Titel: Wer waren die „Levantiner“? Keiner der von Schmitt genannten gruppendefinitorischen Aspekte kommt ohne Ausnahme aus, nicht einmal jener der katholischen Religion, die er als zentrales gemeinsames Identitätsmoment ansieht: Der Begriff „Levantiner“ bezeichne „den europäischstämmigen Katholiken, Nachfahren von aus Europa in das osmanische Reich, besonders die großen Hafenstädte, eingewanderten Familien, die häufig Mischehen mit Ostchristinnen eingegangen sind. Hinzugezählt werden ebenfalls protestantische (vor allem britische und niederländische) Familien, sofern sie vor dem 19. Jahrhundert im osmanischen Reich ansässig geworden sind“ (60). Hinzu kommt, dass „Levantiner“ ein negativ konnotiertes Exonym war, eine von mehreren Bezeichnungen, die europäische Beobachter auf diese Gruppe anwandten. Es habe, so Schmitt, zwar ein katholisches Gruppenbewusstsein innerhalb einer muslimischen Umgebung gegeben, aber eben kein levantinisches. (1)

In der Tat war die Gruppe, die Schmitt als Levantiner definiert, kein europäischer Import des 19. Jahrhunderts, sondern tief in der osmanischen Gesellschaft verwurzelt. Ihre Genese ist in den mittelalterlichen italienischen Niederlassungen im Ägäisraum zu suchen, der Grund für ihre überkommene Gruppenspezifizität in der besonderen rechtlichen Stellung, die das Osmanische Reich Ausländern zugestand. Ohne diese Kapitulationen wären die Nachfahren der frühen venezianischen und genuesischen Siedler wohl in der Masse der Reayas aufgegangen. Hieraus folgt auch die Wahl der Fallbeispiele: In den Konstantinopler Vororten Galata und Pera siedelten Italiener seit dem Hochmittelalter, in Smyrna gab es seit der frühen Neuzeit eine europäischstämmige Bevölkerung. In den meisten anderen Städten des Osmanischen Reichs bildeten sich bedeutsamere Levantinergemeinschaften erst im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus. Im Untersuchungszeitraum waren in Smyrna 10 Prozent der Bevölkerung Katholiken europäischer Abstammung - in Konstantinopel waren es 3,5 Prozent (299). Obgleich Schmitt nicht abschließend beurteilt, wie lange ein zugewanderter Europäer im Osmanischen Reich gelebt haben musste oder sollte, um als Levantiner zu gelten, ist Smyrna dennoch als das eigentliche Zentrum alteingesessener europäischstämmiger Bevölkerung zu betrachten, auch weil sich die Verhältnisse in der Hauptstadt durch den massiveren Zuzug europäischer Diplomaten und Kaufleute schneller kosmopolitisierend aufzumischen begannen. Der Vergleich der beiden Städte zeigt, dass die Entwicklung des Levantinertums auch abhängig vom Siedlungsort jeweils unterschiedlich verlief. Lebte die Gruppe in Konstantinopel nahe dem Zentrum und somit der Kontrolle osmanischer Macht, charakterisierten Smyrna einerseits größere Staatsferne, andererseits schnellere Seeverbindungen nach Europa und die räumliche Nähe zum griechischen Königreich. Als Ergebnis entstand eine stärkere lokale smyrniotische Identität. War ein generelles Charakteristikum der Levantiner die häufig in allen Sprachen mehr schlechte als rechte Viersprachigkeit (italienisch, französisch, griechisch, türkisch), entwickelten die Smyrnioter Levantiner auch im Schriftverkehr eine Eigenvariante: Sie schrieben Griechisch in lateinischem Alphabet (Frankochiotika).

Indes machten genau die „Fransigkeit“ der Begrifflichkeiten und die Unmöglichkeit klarer Zuordnungen das Faszinosum des Forschungsgegenstandes aus. Lässt man von der Erwartung ab, eindeutige Kategorien präsentiert zu bekommen, und lässt man sich auf die Hybridität der levantinischen Geschichte(n) ein, eröffnet sich ein unverbauter Blick auf vordergründig vom Nationalismus zerstörte Welten: Hauptwesenszug der Levantiner sei „Uneindeutigkeit“, resümiert Schmitt (462). Der Wunsch nach klaren Zuordnungskategorien ist verständlich, zumal er von der bisherigen, vorwiegend nationalstaatlich ausgerichteten Forschung meist bedient wurde, was nicht zuletzt zur Auslassung der hier untersuchten Gruppe führte. Schmitts Arbeit ist ein eindringliches Plädoyer für die Untersuchung osmanischer Geschichte jenseits der Milletorganisation und jenseits eines ex-post formulierten nationalstaatlichen Gedanken- und Interpretationsrasters sowie für eine methodische Erneuerung der Erforschung osmanischer Stadtgesellschaften, welche die Interaktions- und Abtrennungsmechanismen gleichwertig behandeln und die Levantiner nicht länger als irrelevante „Ausländer“ außen vor lassen würden.

Die Studie spürt einer dreifachen miteinander verknüpften Fragestellung nach: Zum einen rekonstruiert sie die Sozialgeschichte der katholisch-levantinischen Gruppe. Hier wird im Detail nachgezeichnet, dass Menschen mit europäischen Pässen und Schutzbriefen häufig Familien angehörten, die seit dem Mittelalter oder der frühen Neuzeit am Goldenen Horn und in der Ägäis lebten und daher als integraler Bestandteil der osmanischen Gesellschaft zu gelten haben. Schmitt führt überzeugend aus, dass Staatszugehörigkeit eben noch keine Identität ausmacht. Etwa sprach im späten 19. Jahrhundert nur etwa ein Drittel der smyrniotischen „Italiener“ tatsächlich italienisch als Muttersprache. Nationalstaatliche Bekenntnisse in den Quellen seien eher als rhetorische Glanzstücke denn als tatsächliches Indiz für Identität zu werten, da die erfolgreiche Wahrung von Privilegien eben in zunehmendem Masse vom wachsenden Nationalisierungsdruck der europäischen Schutzmächte konditioniert wurde.

Zum Zweiten leistet Schmitt, ausgehend von dieser Feststellung, einen substantiellen Beitrag zur Nationalismusforschung. Die Levantiner fielen durch alle Raster der Nationsbildungsprozesse – sie standen im Spannungsfeld der nationalstaatlichen Entwicklungen und dem damit wachsenden Bekenntnisdruck von Seiten der europäischen Staaten und der Säkularisierungstendenzen im Osmanischen Reich seit Beginn des Tanzimats. Anhand individueller Lebenswege zeigt Schmitt Anpassungs- und Überlebensstrategien auf und veranschaulicht eindringlich die Hybridität levantinischer Identität. Die „äußere Identität“ (die adressatenbezogenen Bekenntnisse zum europäischen Charakter und zum jeweiligen Nationalstaat) habe vorrangig dazu gedient die „innere Identität“ (die osmanische) zu bewahren. Eine eindeutige Entscheidung für eines der beiden Systeme sei so lange wie möglich vermieden worden, um weiterhin die Vorteile beider Zugehörigkeitsmomente auszunutzen (Steuerfreiheit, Schutz vor dem Zugriff der osmanischen Behörden, Privilegien vor Gericht, Befreiung vom Militärdienst). Die Interessen der Levantiner wurden durch die Konsulate und durch die katholische Kirche vertreten, die aber im Gegensatz zu den ostchristlichen Kirchen keine nationale Stoßrichtung entwickelte. Politische und administrative Strukturen entstanden nicht. Wenn Schmitt von „politischen Regungen“ (460) spricht, meint er rein ideelle Vorstöße wie den Traum eines autonomen katholischen Smyrna in einem weiteren griechisch-ägäischen Staatenbund in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welcher nicht zuletzt als ein diffuser Versuch gewertet werden kann, sich in die neuen am Nationalstaat orientierten mentalen Parameter einzufügen bzw. diesen zu entgehen (307–311). Schmitts Studie reiht sich in die südosteuropahistorischen Arbeiten jüngerer Zeit, welche – die nationalstaatliche Optik überwindend – die Ambiguität und Hybridität von Identitäten insbesondere in ethnischen Misch- und Grenzregionen in den Vordergrund rücken. (2)

Zum Dritten schließlich hinterfragt Schmitt die Rolle der Levantiner als kulturelle Mittler zwischen Okzident und Orient auf der Folie theoretischer Vorgaben zu interkulturellen Kommunikationsmechanismen und kulturellen Zuordnungskategorien. Auch hier wird schnell deutlich, dass die Ambivalenz levantinischer Identität „die Problematik starrer Trennlinien aufzeigt, von denen Kulturkreistheorien ausgehen“ (462). Hauptmotiv ist auch hier die Zugehörigkeit zu zwei sich überlappenden soziokulturellen Kontexten: Geburt, Sprache, Verwandtschaft, Mentalität und Geschäftsinteressen prägten die Levantiner osmanisch, Staatsangehörigkeit, diplomatischer Schutz und ihre Stellung innerhalb der Kolonien banden sie an die europäischen Staaten. Insgesamt zeigten sich die osmanischen Identitätsmomente wirkungsmächtiger, wie die Herausstellung der Unterschiede zu zugewanderten Europäern zeigt. „In Jahrhunderten einer engen soziokulturellen Symbiose mit orthodoxen Griechen hatten die Nachfahren der venezianischen und genuesischen Siedler des Spätmittelalters ihre katholische Konfession beibehalten, sich ansonsten aber in die regionale Gesellschaft eingefügt“ (462). Wie die christlichen Reayas okzidentalisierten sich auch die Levantiner erst im 19. Jahrhundert; und „wie bei den anderen Bewohnern des osmanischen Reiches – und des südosteuropäischen Raumes – betraf diese Europäisierung primär die materielle Kultur (Kleidung, Wohnungseinrichtung) und äußere Formen der Soziabilität (Kasinos, Theater, Cafés in europäischem Stil usw.)“ (462). Mehr noch: „Europäer, nicht die Levantiner, trieben die Modernisierung des osmanischen Reiches voran“ (463). Levantiner nahmen höchstens an den von Europäern angestoßenen Reformen teil und waren auch in dieser Hinsicht Teil der osmanischen Gesellschaft.

Das für die Studie herangezogene Quellenmaterial ist umfangreich und liegt weit verstreut (Istanbul, Rom, Vatikan, Turin, Venedig, Nantes, Paris). Insbesondere die Kirchenakten, so Schmitt, ersetzten das für die in Millets organisierten ethnokonfessionellen Gruppen vorhandene Gruppenarchiv. Angesichts der Materialfülle und auch der Vollständigkeit, mit der das angestrebte Forschungsziel erreicht wird, erscheint das Auslassen osmanischer Quellen plausibel, auch wenn die Darstellung insbesondere der zahlreichen Einzelfacetten der Gruppengeschichte stellenweise eher holzschnittartig bleiben muss. Als sich kurioserweise aus den Quellen selbst ergebender Widerspruch zur getroffenen Auswahl bzw. als tatsächlicher Anreiz, weiterzuforschen, erweist sich eines der Hauptergebnisse: Dass nämlich die Levantiner zuvörderst als integraler Teil der osmanischen Gesellschaft zu betrachten seien und erst danach als Europäer bzw. europäische Schutzbefohlene. Insofern wird zwar bestätigt, dass die europäischen Akten durchaus Einsicht in die komplexen Identitäten der Levantiner geben. Gleichzeitig wird aber auch das Desiderat evident, diesen Befund durch die Einbeziehung osmanischer Quellen (Memoiren, Publizistik, Verwaltungsakten u. a. m.) vergleichend zu verifizieren, diversifizieren und zu verfeinern.

 

 

(1) In der Tat finden sich in der Forschung unterschiedliche Meinungen, was unter „Levantinern“ zu verstehen sei. Vgl. Desanka Schwara, Rediscovering the Levant: A Heterogeneous Structure as a Homogeneous Historical Region, in: European Review of History, Vol. 10, No. 2, Summer 2003, S. 233-251, die die Gruppenidentität eher auf sozialen Identitätsmomenten begründet sieht, wie intensiv ausgeprägte Kommunikationsformen und Vielsprachigkeit, große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit im Umgang mit kulturellen Codes inklusive geradezu alltäglicher Konversionen von einem kulturellen Milieu in ein anderes sowie die Zugehörigkeit zur Welt des Handels und der Seefahrt. Sie subsumiert demnach nicht nur katholische, sondern auch armenische, griechische und jüdische Kaufleute unter diesen Begriff.

(2) Zu nennen sind hier neben den Studien zu Dalmatien von Konrad Clewing (Staatlichkeit und nationale Identitätsbildung. Dalmatien in Vormärz und Revolution, München 2001) und Aleksandar Jakir (Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Integration, München 1999), auf die Schmitt methodisch rekurriert, etwa auch Andreas Helmedach: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Post, Fuhrwesen und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Eisenbahnzeitalter (München 2002) sowie Sabine Rutar: Kultur - Nation - Milieu. Sozialdemokratie in Triest vor dem Ersten Weltkrieg (Essen 2004).

 

Rezensiert von Sabine Rutar

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