Springe direkt zu Inhalt

Rezension 30

Rezension Nummer 30 vom 20.06.2005

 

Fruntaşu, Iulian: O istoria etnopolitică a Basarabiei, 1812-2002.
Chişinău: Cartier 2002, 592 S., zahlr. Abbildungen; ISBN: 9975-79-146-8.

 

Rezensiert von: Stefan Ihrig (Berlin)

 

Die meisten Geschichtswerke aus der Republik Moldova beziehen entweder Stellung im Streit zwischen historiographischem Rumänismus und Moldowanismus in Form von nationalen Meistererzählungen oder beschäftigen sich lediglich mit kleineren Teilausschnitten der Geschichte des Gebietes.(1) Die von dem Chişinăuer Politologen Iulian Fruntaşu vorgelegte ethno-politische Geschichte Bessarabiens scheint auf den ersten Blick ein Werk zu sein, das keiner der beiden Tendenzen entspricht. Er erfreut den Leser über weite Strecken durch eine interessante Diskussion der Geschichte Bessarabiens fern ab des sonst so dominierenden Geschichtsstreits. Eine genauere Analyse dieses Buches allerdings zeigt, dass es zum einen eben doch eindeutig in den historiographische Streit einzuordnen ist und sich auch, trotz seiner im Titel versprochenen Zeitspanne, vor allem auf einige Aspekte der Geschichte Bessarabiens bzw. der Republik Moldova beschränkt.

Fruntaşu versucht mit diesem Werk, die rezente Geschichte des Gebietes unter dem Aspekt der Nation zu untersuchen. Er orientiert sich an der neuesten Nationalismusforschung, um in verschiedenen Etappen zu prüfen, ob es gerechtfertigt sei, von einer Nation, sei sie moldawisch oder rumänisch, in Bessarabien und der Republik Moldova zu sprechen. In neun Kapiteln und ca. 560 klein bedruckten Seiten gibt der Autor die Ereignisse von 1812 bis 2002 wieder und versucht diese in Bezug zu seiner Ausgangsfrage zu setzen. Das vom Autor für seine Untersuchungsregion favorisierte Konzept ist das des Protonationalismus.(2) Er thematisiert durchgängig die „Intraktibilität“ (intractabilitate) der Bevölkerung, d.h. ihre relative Unerreichbarkeit für die Konzepte „Nation“ und „Klasse“.

Diese Unerreichbarkeit ist der roten Faden der Untersuchung, in der für jeden zeitlichen Abschnitt gezeigt wird, dass die Bevölkerung den Versuchen, sie in ein Projekt des Nationalismus oder des Sozialismus einzubinden, indifferent gegenüberstand. Fruntaşus Analyse beschränkt sich allerdings vor allem auf das 20. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert wird mit weniger als hundert Seiten (nicht einmal ein Fünftel des Buches) dargestellt. Das ist besonders bedauerlich, da viele der Mythen und Feindbilder gegen die Minderheiten, die man in der neueren Historiographie und den Geschichtsschulbüchern findet, ihren narrativen Beginn meist im frühen 19. Jahrhundert haben. In den meisten Werken werden die Minderheiten in der Regel singulär in ihrer privilegierten Position als „Kolonisten“ (an)diskutiert. Gerade zur Geschichte der deutschen, bulgarischen und gagausischen Bevölkerung des Gebietes hätte man in diesem Kontext mehr Informationen erwartet. (3)

Es ist gerade die Diskussion der Ereignisse seit 1991, die eine Einordnung des Werkes erlauben. Hier argumentiert der Autor eindringlich gegen die Versuche der Minderheiten, eine Föderalisierung der Republik zu erreichen, denn eine Föderalisierung käme einer „Russifizierung“ gleich und diene dem Ziel, die Republik fest im Einflussbereich Russlands halten. Während sich der Autor in der Schilderung vorhergegangener historischer Gegebenheiten für eine weniger national gefärbte Sichtweise einsetzt und somit einen konzilianteren Ton an den Tag legt, wird in der Hinführung zu den jüngsten Ereignissen der Zweck dieser Analyse klar: Er will den Eliten der Republik verdeutlichen, dass sie mit ihren Ideen – wie schon viele politische Akteure vor ihnen – die allgemeine Bevölkerung unter Umständen nicht erreichen werden.

Gerade im Hinblick auf die Minderheiten erschrecken die letzten Kapitel des Buches, in denen der Autor seinem zuvor eingenommenen toleranten Ton widerspricht. Hier werden die Russen als „national-chauvinistischer russischer Krebs“ (S. 533f.) bezeichnet und der Autor richtet einen Appell an die Eliten, dass in der derzeitigen Situation „teutonische Courage, nicht aber eine slavo-asiatische Überheblichkeit“ nötig sei (S. 566). Zahlreiche weitere solcher Bemerkungen widersprechen dem Duktus des restlichen Buches frappant.

Lange, teilweise über Absätze andauernde Zitate, die zudem noch oft nicht gekennzeichnet und/oder ohne klare Angabe benutzt werden, verleihen dem Werk (leider) einen leicht crestomatischen Charakter. Viele Zitate sind so unvermittelt in den Text eingepflanzt, dass dem Leser weder Absicht noch Zusammenhang (unmittelbar) klar werden. Zwar führt die teilweise exzessive Zitierweise zu einem stark aufgeblähten und schwer lesbaren Text, doch gleichzeitig lässt Fruntaşu hierdurch weit mehr Stimmen sprechen als dies die Meta-Narrative der Rumänisten oder Moldowanisten tun. So trägt das Werk auf diese Weise, wenn auch nicht besonders leserfreundlich und vom wissenschaftlichen Standpunkt kritisierbar, dennoch zu einer möglichen Diversität der Positionen im Geschichtsstreit bei.

Auch wenn die Arbeitsweise des Autors und einige seiner Schlussfolgerungen stark zu hinterfragen sind, muss man ihm zugute halten, dass er den Rumänisten in vielen Punkten grundlegend widerspricht – und dies in einer Weise, die im Gegensatz zu den verschiedenen Dementi der Moldowanisten relativ glaubwürdig und schlüssig scheint. So zum Beispiel, wenn er zeigt, dass es Anfang des 19. Jahrhunderts nicht Ziel des Zarenreiches war, das bessarabische Gebiet zu „denationalisieren“ oder dass die Vereinigung von 1918 nicht von vornherein die Absicht des Sfatul Ţării gewesen sei. Den letzen Punkt leitet er auch daraus ab, dass die Möglichkeit einer Vereinigung Bessarabiens mit Rumänien eine solche Unwahrscheinlichkeit für die Zeitgenossen zu Beginn ihrer Aktivitäten in den Räten Chişinăus von 1917/1918 darstellte, dass sie gar nicht angedacht wurde. Dies belegt er durch zahlreiche Dokumente. Ferner traut sich der Autor festzustellen, dass es auch eine Reihe von „guten“ Dingen an der russischen Herrschaft gegeben habe, wie beispielsweise die Alphabetisierung der Bevölkerung. Doch Fruntaşus Bewertungshintergrund muss dem Leser klar bleiben: Gute Maßnahmen sind solche, die es dem Nationalismus bzw. den nationalisierenden Eliten ermöglichen, die Masse der Menschen zu erreichen und das „Dilemma“ der „Unerreichbarkeit“ der Bevölkerung zu überwinden.

Fruntaşus Buch stellt trotz aller Kritik in jeder Hinsicht eine Bereicherung für das historiographische Spektrum in der Republik Moldova dar. Über große Teile des Werkes hinweg gelingt ihm eine differenzierte Schilderung vor allem auch von kritischen Aspekten, die sonst in einem klaren schwarz-weiß Muster von den beiden historiographischen Positionen in Moldova dargestellt werden. Doch insgesamt muss man die Argumentationsstruktur des Werkes leider als sich kegelförmig auf ein einziges antiföderalistisches Plädoyer hinentwickelnd beschreiben. Während der Antiföderalismus als solcher kein illegitimer Standpunkt sein muss, ist Besorgnis erregend, dass er im Kontext der Republik Moldova oft mit starken Ressentiments gegen Minderheiten, Minderheitenrechte und besonders gegen Russland und „die Russen“ als Gruppe verbunden ist. Die teilweise sehr populistischen Bemerkungen Fruntaşus gegen Minderheiten unterstützen eine solche Lesart des antiföderalistischen Diskurses.

Letztlich ist an der Argumentation des Buches vor allem der Aspekt der Instrumentalisierung der vom Autor geschilderten Geschichte und damit der nachhaltigen Reduktion der über weite Strecken so diversen Darstellung auf eine einzige Dimension zu kritisieren. Da der Autor fast gar keine Primärquellen benutzt hat und sich das Narrativ über größere Teile hinweg recht undurchsichtig, beinahe „argumentfrei“ entwickelt, kommt diesem Werk wahrscheinlich eher wenig Bedeutung als Beitrag zur Forschung bei. Innerhalb des moldowanistisch-rumänistischen Streits allerdings ist es ein Novum, da sich bei Fruntaşu viele Schilderungen finden, die aus dem jeweils einseitigem Diskurs ausbrechen und so sicherlich einer ausgewogenen historischen Darstellung, zumindest der Zeit bis Ende des 20. Jahrhunderts, näher kommen als es die meisten in der Republik Moldova sonst veröffentlichten Darstellungen tun.

 

(1) Vgl. hierzu: Meurs, Wim P. van: Moldova – nationale Identität als politisches Programm, in: Südosteuropa-Mitteilungen 4-5 (2003), 31-43; Ihrig, Stefan: Welche Nation in welcher Geschichte? Eigen- und Fremdbilder der nationalen Diskurse in der Historiographie und den Geschichtsschulbüchern in der Republik Moldova, 1991-2005. Stuttgart/Hannover (im Erscheinen); Meurs, Wim P. van: Rezension zu V. Stati „Istoria Moldovei“ und I.Eremia „Falsificarea istoriei“ in: Südostforschungen 61/62 (2002/2003), 626-629; Ihrig, Stefan: Rezension zu V. Stati „Ştefan cel Mare. Voievodul Moldovei“ und V. Zbârciog „Ştefan cel Mare şi Sfant. Voievodul românilor” in: Südost-Forschungen 64 (erscheint voraussichtlich 2006).

(2) Er orientiert sich hier an: Hobsbawm, Eric: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge, 2. Auflage, 2002.

(3) Hier sei verwiesen auf: Hausleitner, Mariana: Deutsche und Juden in Bessarabien 1814-1941. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens. München 2005; Fassel, Luminiţa: Das deutsche Schulwesen in Bessarabien, 1812-1940 – Eine komparativ-historische und sozio-kulturelle Untersuchung. München 2000; Manov, Atanas: Gagauzlar (Hıristiyan Türkler). Erw. Ausgabe, übersetzt und herausgegeben von Türker Acaroğlu. Ankara 2001; Solomon, Flavius: Identitate etnică şi minorităţi în Republica Moldova – O bibliografie. Iaşi 2001.

 

Stefan Ihrig

Zur Website des Friedrich-Meinicke-Instituts
Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften
Zur Website des Netzwerks Area Histories
Zur Mediothek des Osteuropainstituts