Springe direkt zu Inhalt

Rezension 21

Rezension Nummer 21 vom 27.10.2004

 

Mehmet Hacısalihoğlu: Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890-1918) (= Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 116). München: R. Oldenbourg Verlag 2003, 445 S., ISBN 3-486-56745-4; € 59,80.-

 

Rezensiert von: Heinz Willemsen (Bochum/Bielefeld)

 

Unter den zahlreichen Abhandlungen über Makedonien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überwiegen zumeist solche Darstellungen, die je nach dem Standort der Autoren kritisch oder apologetisch eine der unterschiedlichen christlichen Befreiungsbewegungen im europäischen Teil des Osmanischen Reiches behandeln. Die Makedonische Frage hatte aber auch maßgeblichen Anteil an der Entstehung einer gegen die irredentistischen Ziele dieser christlichen Parteien gerichteten Bewegung, den im „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (im Folgenden: KEF) zusammengeschlossenen „Jungtürken“. Durch eine partielle Integration der politischen Ziele der verschiedenen nationalen Befreiungsbewegungen im Reich wollte das KEF die Einheit des Osmanischen Reiches bewahren. Gleichzeitig strebten die Jungtürken nach einer grundlegenden Umgestaltung und Modernisierung des politischen und sozialen Systems. Die gemeinsame Orientierung an den aus Westeuropa übernommenen Konzepten wie „Säkularisierung“ „Verfassung“, „Vaterland“ und „Parlament“ bildete dabei das verbindende Element für die Zusammenarbeit mit den nationalen Befreiungsbewegungen, obwohl deren langfristiges Ziel, nationale Unabhängigkeit, den Absichten der Jungtürken diametral entgegenstand.

In der am Paradigma der Nationalgeschichte ausgerichteten Forschung auf dem Balkan konzentriert man sich in aller Regel auf die Verbindung einer der nationalen Bewegungen mit den Jungtürken. Für die wachsende Entfremdung zwischen dem KEF und den nationalen Bewegungen unter den Balkanvölkern seit 1909 wird ausschließlich der „extreme Nationalismus“ der Jungtürken verantwortlich gemacht. Der Charakter einer oppositionellen Bewegung wird den Jungtürken abgesprochen. Statt dessen werden sie lediglich als eine taktische Variante eines allgemeinen „Türkentums“ behandelt.

Anknüpfend an neuere Arbeiten wie M.Ş. Hanioğlu: The Young Turks in Opposition (New York/Oxford 1995) nimmt Mehmet Hacısalihoğlu dagegen das KEF als oppositionelle Bewegung ernst. Anstelle der Darstellung der bilateralen Beziehungen hat die vorliegende Arbeit eine umfassende Darstellung des jungtürkischen Verhältnisses zu allen Parteien der Makedonischen Frage vom Beginn der Jungtürkenbewegung 1889 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zum Ziel. Allerdings widmet auch Hacısalihoğlu den einzelnen nationalen Fraktionen nicht die gleiche Aufmerksamkeit. Während die griechische Seite ausführlich thematisiert wird und die gedruckten Quellen und die Sekundärliteratur berücksichtigt wird, werden Serben, Aromunen, Juden und Albaner eher am Rande behandelt. Der eindeutige Schwerpunkt liegt jedoch auf der bulgarischen Partei, der auch der größte Teil der Archivstudien gewidmet ist.

Im ersten Teil der Arbeit, die weitgehend einer chronologischen Ordnung folgt, setzt sich Hacısalihoğlu nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Makedonischen Frage mit der Geschichte der jungtürkischen Bewegung auseinander. Die eigentliche Beschäftigung mit der Makedonischen Frage setzte mit der Flucht der Bewegung aus Istanbul 1895 ein. Angesichts der europäischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Reiches war die Emigrantenszene bald von gegensätzlichen Standpunkten bezüglich der Frage einer europäischen Intervention beherrscht. Von langfristiger Bedeutung erwies sich dabei der Umstand, dass sich diese Spaltungslinien weitgehend mit denen einer anderen Kontroverse deckten, nämlich der nach der zukünftigen innenpolitischen Ausgestaltung des Staates. Die Befürworter eines zentralistischen Staatswesens standen dabei gegen die Anhänger eines dezentral organisierten Reiches mit weitgehenden lokalen, regionalen oder nationalen Autonomierechten. Allen Strömungen gemeinsam war jedoch das ambivalente Verhältnis zu den Organisationen der nationalen Befreiungsbewegungen, insbesondere zur griechischen Andartenbewegung und zu den bulgarischen Komitees wie der IMRO (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation, bulg. VMRO) und dem OMK (Oberes Makedonische Komitee, bulg. VMK). Zeigte sich in den grundsätzlichen programmatischen Äußerungen häufig eine große Übereinstimmung mit den oppositionellen Nationalbewegungen, so misstrauten ihnen das KEF doch als Instrumente auswärtiger Kräfte. Gleichzeitig waren die Jungtürken jedoch bemüht nicht den griechischen und bulgarischen Aufständischen die Schuld an den Missständen im Reich zu geben, sondern dem Regime des Sultans. Am stärksten kam diese Ambivalenz bei den auf dem Balkan verbliebenen Jungtürken zum Ausdruck. Der Autor spricht hier von der Entwicklung eines „lokalen Jungtürkentums auf dem Balkan“, ohne jedoch für die Periode bis 1902 näher auf dessen Entwicklung einzugehen. Der materialreichen und detaillierten Untersuchung hätte an dieser Stelle eine grundsätzlichere theoretische Erörterung zum Spannungsverhältnis von staatsbürgerlicher Gleichheit und nationalen Sonderrechten gut getan. Das gleiche gilt auch für das politische Selbstverständnis des KEF. Einerseits sah es sich als Reformbewegung, die sich der gesamten Bevölkerung verpflichtet fühlte, andererseits handelte es aber auch als eine spezifischen Interessenvertretung der muslimischen Mehrheit des Reiches gegen die von ausländischen Mächten protegierten Balkanchristen.

Im Weiteren wird die Entwicklung auf dem Balkan von 1902 bis zum unmittelbaren Vorabend der jungtürkischen Revolution thematisiert. Hacısalihoğlu gibt hier einen sehr guten und nützlichen Überblick über die Entwicklung der bulgarischen Organisationen. So präzise und prägnant, wie hier die politisch-ideologischen Differenzen zwischen der IMRO und dem OMK, aber auch innerhalb der IMRO dargestellt werden, findet man es nur selten in der Literatur über die Makedonische Frage (S. 114–125). Erstaunlich bleibt jedoch, dass der Autor große Zurückhaltung bei der Bewertung dieser Konflikte zeigt. Er zeigt sich der seit 1944 von der Wissenschaft in Skopje und Belgrad propagierten Erklärung nicht grundsätzlich abgeneigt, die darin einen nationalen Konflikt zwischen Bulgaren und Makedoniern sieht. Dabei hat Hacısalihoğlu selbst genügend Material geliefert, das eine solche Interpretation mehr als fragwürdig erscheinen lässt. Ungeachtet aller politischen Konflikte bestand nämlich gleichzeitig eine starke personelle Fluktuation und Überschneidung zwischen beiden Organisationen. Auch der von ihm ausführlich behandelte Vojvode Jane Sandanski, ein exponierter Vertreter des linken Flügels der IMRO, bezeichnete sich selbst als Bulgaren. Regionale Autonomie, das zeigt die Arbeit, musste dabei nicht unbedingt Makedonien als Gesamtheit und einheitliches Gebilde umfassen, sondern konnte durch aus auch in diesem Fall die Stärkung von Sandanskis Machtposition in dem von ihm beherrschten Teilgebiet, dem Pirin-Gebirge, bedeuten. Worauf es Hacısalihoğlu aber vor allem ankommt, ist aufzuzeigen, dass die Befreiungsbewegungen, welche die Zusammenarbeit mit den Jungtürken suchten, diejenigen waren, die zuvor gegenüber ihren Konkurrenten in die Defensive geraten waren. Das traf vor allem auf die Bulgaren zu, die seit 1903 arg von der griechischen und serbischen Konkurrenz bedrängt worden waren. Nicht so sehr langfristige politische Konzepte für die Zukunft des osmanischen Reiches als vielmehr kurzfristige Versuche verlorenes Terrain gegenüber konkurrierenden Nationalbewegungen wieder wett zu machen, bestimmte deshalb das Verhältnis zu den Jungtürken. Die Dominanz solcher taktischen Überlegungen musste deshalb einige Fragezeichen für eine dauerhafte Kooperation mit den Jungtürken aufwerfen.

Unter den Jungtürken sahen die Verhältnisse im Grunde ähnlich aus, wie Hacısalihoğlu aufzeigt. Seit 1902 hatte sich der Schwerpunkt der Bewegung auf den Balkan verschoben. Die lokalen Mitglieder waren zumeist in der osmanischen Administration beschäftigt und dabei mit der Bekämpfung der nationalen Befreiungsbewegungen beauftragt. Mit dem gewachsenen Gewicht der Balkan-Komitees setzte sich eine aktionistische Grundorientierung, anstelle der bisherigen Dominanz politisch-ideologischer Debatten in Paris und anderen Orten des Exils durch. In dieser Hinsicht wurde das lokale Balkan-Jungtürkentum stark von den verschiedenen nationalen Organisationen beeinflusst. Unverkennbar war aber auch, dass sich damit die zentralistische Option durchsetzte und mit einer stärkeren Betonung der Organisation als muslimischer Interessenvertretung einher ging. Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen nationalen Parteien variierte dabei je nach den lokalen Gegebenheiten, zeigte aber im Prinzip das gleiche Grundmuster wie bei Griechen, Bulgaren und Serben. Die Kooperation wurde vor allem mit den Gruppen gesucht, die sich vor Ort in einer Position der Schwäche befanden. Mal wurden Griechen und Aromunen gegen die Bulgaren unterstützt, mal die Bulgaren gegen die Serben. Auch auf der Seite der Jungtürken überwogen also kurzfristig angelegte Zweckbündnisse anstelle einer langfristig angelegten Bündnisstrategie.

Die Freiheitsfeierlichkeiten vom 10–23 Juli 1903, eine im Grunde recht kurze Periode, stellt Hacısalihoğlu als den Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen den Jungtürken und den nationalen Partei dar. Den Eindruck einer spontanen Verbrüderung der Volksgruppen, der in der Balkanhistoriografie, aber auch vielfach in westeuropäischen Darstellungen vorherrscht, weist er zurück und betont den von oben, von dem KEF, organisierten Charakter der Veranstaltung. Die politischen Differenzen aus der Zeit vor der Revolution waren damit keineswegs beseitigt. Die stark mit den Regierungen der Balkanstaaten verbundenen Parteien der Griechen und der Rechten in der IMRO kooperierten nur notgedrungen mit der Revolution, weil sie darin ein Hindernis für ihre langfristige Zielsetzung sahen. Die sozial konservativen Vorstellungen zur Bewahrung der Privilegien des griechischen Patriarchats und der bulgarischen Kirche standen gegen die Reformperspektive der Jungtürken. Aber auch der linke Flügel der IMRO, der mit dem KEF in der Perspektive einer Säkularisierung der Gesellschaft einig war, widersetzte sich den Zentralisierungsbemühungen. Statt dessen wollten sie das millet-System durch eine Ordnung, die auf nationalen Autonomierechten basierte, ersetzen. Der massive Druck, der auf der Revolution lastete – die Kreta-Frage, die Annexion Bosniens und der Herzegowina, die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens, die Gegenrevolution vom 31. März 1909 –, wirkten dagegen als Verstärker für die zentralistische Option und bestärkten das KEF darin, die politischen Aktivitäten der nationalen Parteien einzuschränken oder zu unterdrücken.

Der letzte Abschnitt („Die Balkankrieg und der Zusammenbruch der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan“, S. 367–378) bildet gewissermaßen eine Art Epilog der Darstellung. Angesichts des Machtverfalls des Osmanischen Reiches lösten auch diejenigen Gruppen, wie die von Jane Sandanski, die bisher mit der Regierung der Unionisten zusammengearbeitet hatten, ihre Verbindungen zum KEF, deren Regierung nur wenige Monate vor den Kriegen gestürzt wurde. Statt dessen suchten sie nun ihre Beziehungen zu den Balkanstaaten zu verbessern. Anders als die Historiker in Skopje, die davon ausgehen, dass Sandanski bis zu seiner Ermordung 1915 ein Gegner Bulgariens war und Distanz zur Regierung in Sofia hielt, argumentiert Hacısalihoğlu, dass er und seine Anhänger im Sommer 1912 beschlossen hatten, auf Seiten Bulgariens in den Krieg zu ziehen.

Die hier besprochene Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der letzten Jahrzehnte der Osmanischen Balkanherrschaft. Überzeugend hat Hacısalihoğlu nachgewiesen, dass der Versuch, das Reich auf einer erst zu schaffenden konstitutionellen Grundlage zu erhalten, nicht allein am Nationalismus der Jungtürken scheiterte. Die nationalen Gegensätze konnten auch deswegen nicht nachhaltig entschärft werden, weil die nationalen Befreiungsorganisationen zumeist nur zu taktischen Zugeständnissen bereit waren. Ihr Verhalten war vor allem von der eigenen nationalen Zielsetzung bestimmt und darauf bedacht, ihre nationalen Konkurrenten klein zu halten. Zudem suchten die Balkanstaaten eine zu enge Zusammenarbeit ihrer Ko-Nationalen mit dem KEF zu verhindern.

Weniger befriedigend bleiben dagegen die Ausführungen des Autors zur Frage ob die Jungtürken das Konzept einer politischen, Osmanischen Nation vertraten oder einem ethnischen, türkischen Selbstverständnis anhingen. Die Frage der Ansiedlung muslimischer Flüchtlinge aus Bosnien ist nicht nur ein Problem der Zahl. Dass die demografischen Veränderungen durch die geringe Anzahl der Flüchtlinge keineswegs so bedeutend waren, wie oftmals unterstellt, konnte Hacısalihoğlu nachweisen. Ihre Ansiedlung berührte aber unmittelbar das politische Selbstverständnis der Jungtürken, das sich damit mehr in Richtung einer Interessenvertretung der Muslime bewegte, als in Richtung einer Reformperspektive für alle Bürger des Reiches. Dies betrifft auch das Problem, welche Rolle der türkischen Sprache in Staat und Gesellschaft zukommen sollte. Eine rein quantitative Aufstellung, an welchen Stellen das türkische als allgemein verbindlicher Sprache durchgesetzt werden sollte und an welcher Stelle nicht, verkennt die Dynamik moderner Nationsbildungsprozesse. Hier bleibt der Autor doch zu sehr der von ihm kritisierten Geschichtswissenschaft des Balkans verhaftet (S. 9). Diese macht keinen Unterschied zwischen frühmittelalterlichen und osmanischen Vergesellschaftungsformen und modernen Nationen. Gerade der Fall Makedonien mit seiner erst im 20. Jahrhundert sich bildenden Nation der „Makedonier“ erweist sich für eine solche Sichtweise als problematisch.

 

Heinz Willemsen

---------------

Redaktion: Ulf Brunnbauer

Zur Website des Friedrich-Meinicke-Instituts
Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften
Zur Website des Netzwerks Area Histories
Zur Mediothek des Osteuropainstituts